Walpurgistag
1961 in Berlin geboren. Sechs Tage nach meiner Geburt wurde die Mauer errichtet. Das kann ich mir gut merken. Aber wer weiß, ob ich in Ost oder in West geboren bin? Das ist eine wichtige Frage. Dem Ausweis nach tendiere ich eher zum Osten der Stadt, er ist im Bezirksamt Lichtenberg ausgestellt. Da zieht keiner aus dem Westen freiwillig hin. Ich wohne in der Gotlindestraße 71, gleich gegenüber dem Städtischen Friedhof Lichtenberg. Das weiß ich auch nur, weil ich mich gleich auf den Weg gemacht habe – und da bin ich nun.
Die Gotlindestraße ist keine fünf Minuten von meiner neuen Wohnung entfernt. Die Straßennamen des Viertels klingen alle nach Nazis und Nibelungentreue. Und nach Walpurgisnacht. Wotan und Freya vertreiben die Dämonen des Winters und zeugen den Frühling. Ich bin jetzt sechs Zentimeter kleiner als ich. Da kann man nur hoffen, dass niemand nachmisst. Vielleicht sollte ich hochhackige Schuhe tragen, dann fällt es weniger auf. Die Augenbrauen sind voller und dunkler, das Haar straßenköterblond, an den Enden fusslig. Die Lippen schmaler. Irgendwie mehr vom Leben gebeutelt. Braune Augen. Wie schön. Keine farbigen Haftschalen mehr, wenn ich das Haus verlasse.
Auch eine Fahrerlaubnis ist unter den Papieren. Ich kann seit 1979 Auto fahren. Leider musste ich bei der Flucht aus meiner Wohnung in der Schliemannstraße im Mai 1995 mein Auto stehen
lassen. Ich war eine rasante Fahrerin. Wahrscheinlich habe ich das Fahren längst verlernt.
Ich schaue durch das Loch der rechten eingestanzten Niete auf dem Passbild in den Himmel von Lichtenberg. Irgendwie ist heute mein Glückstag. Licht und Identität. Was will man mehr? Um mich herum sind die Bäume und Sträucher des Lichtenberger Friedhofs in zartes Grün getaucht. Offenbar wurde hier seit Jahren niemand mehr begraben, alles ist zugewachsen, die Gräber einsturzgefährdet.
Einiges bleibt offen. Habe ich Kinder? Bin ich verheiratet? Ich suche in den Tiefen der Brieftasche nach Indizien. Ich finde das Passbild einer jungen Frau, die mir ähnlich sieht. Zum Muttertag für Mutter, steht hinten drauf. Ich habe also ein Kind, das schon mindestens volljährig ist. Da habe ich ganz schön früh angefangen. Wenn sie noch mehr Kinder hätte, gäbe es bestimmt noch mehr Bilder, aber das ist nicht der Fall. Doch eins, da stehe ich vor einem roten Ford Fiesta, mit dem Mädchen im Arm, wir sind beide jünger. Ich krame weiter und finde einen Ausweis für die Öffentlichen Bibliotheken Berlins, eine Klappkarte des Arbeitsamtes und sogar eine Chipkarte für die Barmer Ersatzkasse. Hoffentlich ist Katrin Manzke keine Diabetikerin oder muss jeden Tag zur Dialyse. Wahrscheinlich aber ist das nicht, denn ich finde noch einen Blutspendeausweis. Chronisch Kranke spenden im Allgemeinen kein Blut. Leider ist meine Blutgruppe nicht identisch. Katrin Manzke hat AB positiv, eine sehr seltene Blutgruppe. Ich sollte den Rotkreuzausweis also keineswegs mit mir herumtragen. Es gibt noch eine Sparkassenkarte, keine EC-Karte. Die Frau ist also nicht besonders solvent, ist ja logisch, wenn sie beim Arbeitsamt gemeldet ist.
Die Papiere von Danielle Schneider verbuddele ich unter dem Grabstein des Stadtrentmeisters Lottermoser, der schon seit siebzig Jahren tot ist. Seine Frau Ida ist fast hundert geworden. Ich bin mir bewusst, dass ich mitten im Herzen der Finsternis gelandet bin. Katrin Manzke wohnt im Stasiviertel. Aber das soll mich nicht entmutigen. Und ich habe auch keine Wahl, wenn ich es
mir recht überlege. Vom Friedhof aus kann ich sehen, dass die Briefkästen vor dem Haus sind. Das ist eigentlich unüblich in der Innenstadt. Aber hier sind bestimmt jede Menge wachsame Nachbarn. Wenn die wüssten, wer da jetzt an ihnen vorbeischlendert zur Nummer 71. Sie könnten einen Orden bekommen, wenn sie mich dingfest machten. Einige haben doch bestimmt auch noch eine Waffe im Schrank. Aber die Straße ist leer, auch die Gardinen bewegen sich nicht.
Ich werfe das Portemonnaie mit Bibliotheks- und Blutspendeausweis, Sparkassen- und Arbeitsamtskarte, den Fotos und fünfzig Euro als Entschädigung von mir in den Briefkasten mit dem Namen Manzke.
Zeit, Katrin zu werden.
19.00 Uhr
Frau Köhnke, Frau Menzinger und Frau Schweickert beschließen, den Abend nicht zu beschließen, und hören der Bolschewistischen Kurkapelle zu
Frau Köhnke (nimmt einen kräftigen Schluck Schlehenlikör und stellt das geschliffene Glas auf den Tisch zurück): Und wieder ist ein Tag vollbracht. Und wieder
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