Walpurgistag
nichts als Mist gemacht.
Frau Menzinger : Na, der Abend hat doch noch jar nicht wirklich anjefangen. Wie spät is es denn?
Frau Köhnke: Sehen Sie nicht? Frau Schweickert hat ein Prachtexemplar von Uhr mitgebracht.
Frau Schweickert: Die ist noch nicht wieder in Betrieb.
Frau Menzinger: Schmeißen Se das Pendel mal an. Dann fühl’n Se sich gleich wie zu Hause.
Frau Schweickert (bitter): Das glaube ich nicht, dass ich mich hier wie zu Hause fühlen werde. Ich fühle mich wie abgestellt.
Frau Menzinger: Det haben wir am ersten Abend alle jesagt. Ick habe sojar noch beim Bezirksamt anjerufen und die Leiterin des Senjorenamtes beschimpft, det se uns Alte ins Sterbehospiz abschieben und zuschließen, damit die Straßen hier aussehen wie auf den Bauschildern. Alle Typen Ende zwanzig, schlank, und zujelassen außer ihnen nur Autos, Kinderwagen und Hündchen.
Frau Köhnke: Da hat Ihr Stalin ja noch eine Chance, Prenzelberger zu bleiben.
Frau Menzinger: Jetzt benutzen Se ooch schon dieses fürchterliche Wort. Det klingt wie Telespargel für Fernsehturm. Früher hat niemand Prenzelberg jesagt.
Frau Schweickert: Früher hatte man ja auch noch Zeit, in ganzen Sätzen zu sprechen.
Frau Menzinger: Ick plädiere für eine Erweiterung der Hausordnung. Wer Prenzelberg sagt, zahlt einen Euro in die Kaffeekasse.
Frau Köhnke: Ich bin dagegen, Sie wollen nur Geld machen. Frau Menzinger: Mit Ihnen verdien ick ’n fettet Sümmchen. Prenzelberg! Wie Latte macke!
(Frau Schweickert öffnet den Uhrkasten. Sie schaut auf ihre Armbanduhr, schiebt mit dem Zeigefinger den großen Zeiger der Standuhr auf die Zwölf und setzt das Pendel in Gang. Die Schöneberger Freiheitsglocke ertönt sieben Mal.)
Frau Menzinger: Eine freie Stimme der freien Welt, so hieß et doch immer nach dem Gongschlag im RIAS. Aber Sie haben ja sicher kein Westradio gehört als Unterstufenlehrerin.
Frau Köhnke: Na, das denken Sie. Sieben erst. Na, das ist ja früh am Morgen. Nur Herr Krause, der neben Ihnen wohnt, wird jetzt gleich in seinen Schlafanzug und in die Heia huschen.
Frau Menzinger: Als ick den det erste Mal kurz nach der Tagesschau im Bademantel auf dem Flur habe rumhüpfen sehen, hab ick jedacht, jetzt bin ick wirklich im Pflegeheim jelandet, wo um neun das Deckenlicht ausjeschaltet wird.
Frau Köhnke: Der kommt aus Königs Wusterhausen und war Reichsbahnobersekretär oder so was Ähnliches.
Frau Menzinger: Schaffner war er.
Frau Schweickert: Und wie kommt ein KaWeler in dieses Haus?
Frau Menzinger: Seine Kinder hatten Königs Wusterhausen satt, die wollten ihn da nich mehr besuchen und haben ihn umjetopft. Und nun fremdelt er, das is ihm allet zu groß in Berlin und zu unpersönlich. Er hat zu mir jesagt, der einzige Ort, an dem er sich wohlfühlt, sei die Stalinallee. Ick hab ihn belehrt, det die seit 1961 Karl-Marx-Allee heißt, hat ihn aber nicht interessiert, hat weiter Stalinallee gesagt. Der muss det letzte Mal vor neunundvierzig Jahren dajewesen sein. Ick war dann so gehässig, ihm zu sagen, det ooch das Stalindenkmal gegenüber dem Sportpalast 1961 abjeräumt wurde und der Sportpalast selbst irgendwann einjestürzt sei.
Frau Schweickert: Der Sportpalast war in der Potsdamer Straße. In der Stalinallee stand die Deutsche Sporthalle, und eingestürzt ist nicht sie, sondern die Kongresshalle in Westberlin.
Frau Menzinger: Is doch wurscht. Sie war jedenfalls so baufällig, det se abjerissen werden musste.
Frau Schweickert: Sie war ja auch in hundertzwölf Tagen gebaut worden.
Frau Menzinger : Wie, und das berechtigt sie, nach zwanzig Jahren einzustürzen? Schön war die nicht, wie so ’n Tempel mit den ollen Putten davor.
Frau Schweickert: Das waren keine Putten, das waren Abgüsse vom Schlüterportal des Stadtschlosses.
Frau Menzinger : Wat Sie allet wissen! Der Krause jedenfalls hat mir erzählt, wie er mit seinem Königs Wusterhausener Reichsbahnkollektiv im März ’53 zur Stalinallee jefahren is, um dort am Denkmal ’n Kranz niederzulegen. Und alle hätten jeweint.
Frau Köhnke: Ich hab auch sehr geweint bei Stalins Tod, auch wenn es mir heute peinlich ist. Wir sind doch sehr betrogen worden. Aber ein Gedicht für Stalin kann ich noch (spricht zum Hund): »Aus dem unendlichen Raunen von Inseln und Ländern /Hebt das Entzücken sich mit seiner Botschaft dahin, /Wo die Verheißungen leben und Epochen verändern, /Namenlos sich die Zeit endlich selbst nennt: /Stalin.«
Frau Menzinger (krault ihren Hund): Det is schön,
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