Walpurgistag
der Kollwitz, als sie noch Weißenburger hieß, eine Straßenbahn.
Trude: Die fuhr Kopf bis Danziger, da war die Endhaltestelle, und dann ging’s rückwärts lustig die Weißenburger runter bis zur Schönhauser und von da bis zum Halleschen Tor. Meine Mutter ist immer jerne mit ihr’m Kompotthut hinten aufs Perron jestiegen und hat die Hutbänder flattern lassen. Die hatte ’ne Menge Verehrer, aber die meisten waren Supsäcke, da konnt se auch bei mei’m Vater bleiben. Einmal is sie aber doch durchgebrannt. Nach Lichtenberg. Nach drei Tagen war sie wieder zu Hause. »Zerzaust wie ’ne Elster«, hat mein Vater später immer jesagt, wenn die Sprache drauf kam. Hat ihr nicht jefallen in Lichtenberg.
Ilse: Ich weiß ja nicht, wie’s heute ist, aber Lichtenberg war ja immer recht primitiv. So ’ne reine Proletariergegend, jedenfalls um den Bahnhof rum.
Gerda: Der Osten hat doch alles gleichgemacht. Überall waren die Häuser kaputt und keiner hat sich mehr drum gekümmert.
Trude: In Lichtenberg haben se ja dann die kleenen popligen Funktionäre aus der Provinz anjesiedelt, die uns Urberlinern det Lachen verbieten wollten. Die letzte Reserve der Partei.
Ilse: Ach, Quatsch mit Soße und Partei, olle Kamellen, mein Hals ist schon ganz trocken. Noch ’ne Schlehe auf den Schreck? (Trude stellt die Gläser nebeneinander und gießt ein. Gerda hält die Hand auf ihr Likörglas als Zeichen, dass sie genug hat, aber Trude hebt mit dem Flaschenhals sanft Gerdas Hand hoch und schiebt ihn
zwischen Hand und Glasrand Sie gießt den Likör ins Glas, ohne einen Tropfen zu verschütten.)
Trude: Na, das bisschen. Hier wird nicht schlappgemacht. Ick würd vorschlagen, wir kippen den runter und machen noch ’n kleenen Spaziergang mit Stalin um den Kollwitzplatz zum Verdauen. Ilse: Von mir aus. Hoffentlich sind nicht so viele Chaoten unterwegs.
Trude: Wir werden die größten Chaoten sein. Diese Jugend ist so was von schlapp. Die können nichts, die wollen nichts außer Spaß, die sind satt bis zum Erbrechen und selbst zum Sexmachen zu träge. Wenn uns jemand blöd kommt, schicken wir Stalin vor, der geht mit großer Lust an die jungen Waden. Na sdorowije, auf gute Nachbarschaft. Und ex.
(Die drei Damen kippen den Schnaps runter. Gerda sieht ein wenig benommen aus, als sie das Glas auf den Tisch zurückstellt.)
Trude: Alles in Ordnung, oder soll ick oben noch einen Kaffee in die Maschine hauen?
Gerda: Nicht nötig.
Trude: Wir können aber auch unterwegs noch in ein Café einkehren. Irgendwie bin ick heute sehr unternehmungslustig.
Ilse: Das ist weiß Gott nicht zu übersehen.
Trude: Gut, Mädels, dann ab durch die Mitte. Nehmt einen Stock mit zur Selbstverteidigung. Ick steck den Schlehenlikör und die Hundeleine in meinen Beutel. Wir können ja vorsichtshalber noch det Pfefferspray mitnehmen.
Gerda: Ziehst du in den Krieg?
Trude: Meine Liebe, wie schon erwähnt, bin ick seit circa 1995 Katastrophentouristin zur Walpurgisnacht und dem nachfolgenden I. Mai. Ick hab Steine abjekriegt und Steine zurückjeschmissen, ein Bürschlein der Polizei übergeben und die Polizei an der Nase herumjeführt. Det Einzije, wat ick noch nich war, is Polizei. Wenn ick euch ’n Rat jeben darf, nehmt euern Personalausweis mit. Die kontrollieren, und denn kommt man vielleicht nicht mehr rin in den Kessel oder raus, je nachdem, wo man hinwill.
Gerda: Aber ich habe doch noch gar nicht meine neue Adresse eintragen lassen. Ich hätte es doch heute unmöglich zur Polizei geschafft.
Trude: Keene Angst, wir hauen dich da raus, wenn’s schlümm kommt.
(Sie kramen noch ein bisschen. Trude sucht die Leine von Stalin. Türen klappen. Nach einer Weile treten die Frauen auf die Straße, wenden sich nach links und gehen die zwanzig Meter bis zur Knaackstraße, die sie, nach rechts und links blickend, überqueren.)
Trude: Hat doch der Feigling von Hausbesitzer sein Kabriolett weggefahren. Konnt ich’s mir doch denken. Ich hatte extra eine kleine Überraschung für ihn mit. Aber ick krieg den noch.
(Sie gehen quer über den Platz an der Plastik von Käthe Kollwitz vorbei in Richtung Wörther Straße. Auf der Straße sind Buden aufgebaut.)
Ilse: Die gute Käthe.
Trude: Wenigstens ist sie mal nicht beschmiert von den Vandalen. Harn alle keen Respekt. Die wusste noch, wie det Volk tickt. Die Künstler heute sind doch alle verwöhnt. Die sitzen den janzen Tag im Café und wissen von unsereins nüscht. Die denken doch ernsthaft, sie sind hier die
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