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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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verblutet.
    Ilse: Mich mussten sie ins Krankenhaus Friedrichshain bringen. Und dort sollte ich sagen, wer den Abort gemacht hat.
    Trude: Und hast du später noch Kinder bekommen?
    Ilse: Nein. Aber ich hatte ja genug in der Schule. Manche grüßen mich heute noch. Ab und an werde ich auch mal zu Beerdigungen eingeladen. Gehe ich aber nie hin. Zum Friedhof kommt man früh genug.
    Trude: Wieso, die sind doch ’ne Oase in der Stadtwüste. Ick bin jerne auf dem Georgenfriedhof, der ist so beschaulich mit seiner leichten Steigung, als wär’s der Weg in den Himmel. Stalin kann da frei rumloofen und stört keen.
    Gerda: Mein Rudolf liegt auf dem Marienfriedhof nebenan, aber ich finde da den Friedhofsangestellten furchtbar. Der sieht aus wie der Gehilfe vom Tod persönlich.
    Trude: Meenste den ohne Zähne und mit den vielen Schlüsseln, die immer am Lenker seines Klappfahrrades baumeln? Stalin versteckt sich sofort, wenn er den riecht. Janz am Anfang wollte der mich zusammenscheißen von wegen Hund an die Leine und so wat. Da is Stalin gleich auf den los und hat an dem sein Been jezuppelt, und der Typ hat ihn nur einmal scharf anjesehen, und schon hat der Hund ’n Schwanz einjezogen. Da war ick ja baff und habe mich jar nicht mehr jetraut, Stalin beim Namen zu nennen. Respekt. Respekt.
    Ilse: Ich bin, das ist vielleicht zehn Jahre her, mal nicht rechtzeitig vor Schließung mit dem Gießen fertig geworden, und da hat der Typ mich aufgefordert, mit ihm zum Tor zu kommen, weil er angeblich abschließen wollte. Ich habe gehorcht und bin neben ihm hergegangen. Und den ganzen Weg hat er mir von den Morden und Vergewaltigungen auf Berliner Friedhöfen erzählt. Und zwischen jedem einzelnen Fall hat er mit den Zähnen geknirscht und mir sein Gesicht in dem Moment zugedreht, wenn er bei der Todesart war. Aber ich habe seine Augen nicht sehen können, denn er trug eine dieser verspiegelten Sonnenbrillen mit riesigen
Gläsern und kam beim Sprechen nah heran, dass ich seinen Atem riechen und gleichzeitig mein erschrecktes Gesicht in den Brillengläsern sehen konnte.
    Trude: Bei mir hat der die Tour ooch versucht. Die Jeschichte von der nackten Frau, die erdrosselt hinter eenem Familiengrab jefunden wurde, die Jießkanne noch in der Hand, die hat der janz jenüsslich ausjemalt.
    Gerda: Und die von dem Zwillingsschwesternpaar um die achtzig, das verstümmelt und nur notdürftig verscharrt im Kompost lag, kennst du die auch?
    Trude: Ja, die sich bei den Händen jefasst hatten und nich mehr zu trennen waren, sodet man se zusammen begraben musste. Oder die von der Sechzigjährigen, die von dem Mann mit der Maske beim Bücken über dem Grab von hinten angegriffen und vergewaltigt wurde, kennt ihr die ooch?
    Gerda: Die hat er mir auch erzählt, und dass es der Frau großen Spaß gemacht hat, denn am nächsten Tag habe sie sich wieder gebückt und gewartet, und diesmal hatte sie keinen Schlüpfer an.
    Ilse: Habt ihr nicht mal ein anderes Thema?
    Trude: Ick mein, es passiert ja jenuch in Berlin, woll’n wir uns mal nischt vormachen, aber der Typ hat nur ’ne blühende Phantasie.
    Gerda: Aber vielleicht ist er ja doch ein Mörder und Vergewaltiger.
    Trude: Nee, gloob meiner Menschenkenntnis, das ist ’n armes Würstchen, das keene Frau hat und Eindruck schinden will bei alten Damen und den jungen Dingern, die auf dem Friedhof auf ihren Liebsten warten. Und dann kommt der Vogel mit seinem Klapprad an und macht sie fertig, weil er weiß, dass sie ohne sein Eingreifen ein schönes Schäferstündchen zwischen den Gräbern haben würden. Es macht ihm riesigen Spaß, ihnen das gründlich zu verleiden. Der ist nichts weiter als ein kleiner Sadist.
    Ilse: Der sollte sich mal lieber um die Nazis kümmern, die nachts an der Stelle rumlungern, wo mal Horst Wessels Grab gewesen ist.
    Trude: Da musste ick als BDM-Mädel hin, strammstehen. Ich würd’s aber nich wiederfinden. Ick weeß nur noch, det es auf dem alten Marienfriedhof war.

    Ilse: Das Grab gibt’s ja auch nicht mehr. Das haben die Russen plattgemacht.
    Trude: Manchmal ham die Russen ja ooch recht jehabt. Ick muss euch sagen, det ick oft all die Leute von früher auf der Straße sehe. Auch die, die schon tot sind. So als würde man jeden Tag an Tausenden Déja-vues vorbeikommen. Unjelogen, ick hör manchmal nachts die Straßenbahn hier vorm Fenster.
    Gerda: Welche Straßenbahn?
    Ilse: Du denkst vielleicht, du bist was Bessres, weil du aus ’m Bötzowviertel kommst, aber wir hatten hier in

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