Walpurgistag
Blaskapelle sein?
Ilse: Das sind bestimmt ehemalige Philosophiestudenten, die sich jetzt ein paar Euro zur Arbeitslosenunterstützung dazuverdienen.
Ansager: Heute begnügt sich diese Gruppe, das Kapital durch lukrative Positionen in den Vorstandsetagen zu infiltrieren. Die entscheidenden Impulse kamen aber von jenen, die durch Verweigerung
von Arbeit und das Sammeln von Pflastersteinen den Metropolen dieser Welt ein buntes und menschliches Antlitz verliehen. Sie liegen noch heute vor den Zentralbahnhöfen, um gegen die bestehenden Verhältnisse zu demonstrieren.
Gerda: Also, ich finde das nicht lustig.
Trude: Musst du ja nich, wir sind ja ’n freies Land. (Ruft laut): Kommt aus den Puschen, wir woll’n euch blasen sehn!
Ansager: Wenn die jungen Damen in der ersten Reihe mich mal ausreden lassen könnten? Ende der achtziger Jahre, die Demonstranten stehen kurz vor dem Rentenalter, die sogenannte errechnete Musik ist auf dem Vormarsch, beschließt ein achtzigjähriger kubanischer Bergarbeiter, der Jugend eine Melodie zu schenken. Er schickt eine Schellackplatte mit den typischen Geräuschen des Zuckerrohrs nach Seattle. Der junge Briefträger Kurt Cobain entwendet das Paket und versucht, mit seiner Gitarre das Geräusch nachzuahmen. Der Grunge war geboren und trug seine Botschaft über die Kontinente. Nach einem Konzert in Leipzig hielt der junge Musiker dem wachsenden Erfolg und der damit verbundenen zunehmenden Kommerzialisierung seiner Musik nicht stand. Er wurde im Hotel Merkur tot aufgefunden. Neben ihm eine Jagdwaffe aus dem thüringischen Suhl. Der Roland an der Klarinette wird Sie mit einem Solo erfreuen. Sie können selbst entscheiden, ob Sie hinterher Geschlechtsverkehr mit ihm haben möchten. Trude (laut): Ick wär nich abgeneigt.
Gerda: Spinnst du, was sollen die Leute denken?
Trude: Wenn man mal so ’n schönes Anjebot kriegt, soll man’s nicht ausschlagen. Es gibt jenuch Sechzigjährige, die sich ’n zwanzigjähriges Mäuschen auf Tasche legen. Und der ist ooch bald vierzig. Aber süß is er, wie der den Mund spitzt, also ...
(Ihre Rede wird von der Musik verschluckt die den Einsatz aller Musiker erfordert. Die Blechband spielt Smells Like Teen Spirit von Nirvana, was aber die Frauen nicht wissen können – sie haben sich für Grunge nie interessiert,.)
Ilse: Ich versteh dich nicht.
Trude: Is ooch ejal.
(Trude tritt beschwingt drei Schritte auf den freien Platz zwischen Bühne und Zuhörern vor, bewegt die Hüften, dreht sich, einen Arm fast graziös über die Schultern gestreckt, die Fingerspitzen auf dem Scheitel abgelegt, um die eigene Achse. Stalin springt um sie herum. Ilse und Gerda sehen sich das bis zum Refrain an, dann ziehen sie Trude und Stalin wieder in die Menge.)
Gerda: Wir haben beschlossen, zum Mauerpark weiterzuziehen. Trude: Seit wann beschließt ihr Sachen ohne mich? Und wenn ick nun noch hierbleiben will?
Ilse: Wir haben gehört, dass am Mauerpark das Leben tobt. Gerda: Du kannst natürlich hierbleiben, und wir sehen uns morgen oder nächste Woche.
Trude: Ihr könnt einem aber auch fast allet verderben. ( Sie dreht sich zur Blaskapelle und deutet eine leichte Verbeugung an. ) Auf Wiedersehen, Prinz Roland, man sieht sich immer zweimal im Leben.
(Sie stolpert hinter Ilse, Gerda und Stalin her, der Einkaufsbeutel schlenkert zwischen ihren Beinen wie bei einem Hortkind, das nicht weiß, wohin es mit dem Turnbeutel soll, ihn aber auch nicht einfach fallen lassen kann.)
19.30 Uhr
Paul und Klara teilen ein Geheimnis
Er habe die Kühltruhe aufgemacht, in einem Abstellraum in diesem Hochhaus, wirklich, nur einfach aus Langeweile, vielleicht auch ein bisschen aus Neugier, wer hat schon eine Kühltruhe zu Hause, seine Mutter und er jedenfalls nicht. Er habe gedacht, dass es da drin vielleicht ein Eis zu holen gäbe. Dann habe in der Truhe wirklich Eiscreme gelegen, mehrere Riegel, groß wie Butterstücke, »Moskauer Eis« stand auf der Verpackung. Aber leider sei dieses Eis auf einem Oberschenkel abgelegt gewesen. Das sei ihm aber erst klar geworden, als er das Eis schon in der Hand hielt. Der Oberschenkel eines Mannes, der da in stabiler Seitenlage positioniert war, so wie sie es neulich in der Schule mal geübt haben, sie könne sich doch sicher noch daran erinnern. (Paul macht es vor, indem er sich auf den Fußboden des Ring-Centers legt, wo er sich mit Klara verabredet hat, die auf seinen Notruf hin sofort die U-Bahn zur Frankfurter Allee genommen und einen
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