Walpurgistag
Familienaufstellungen sicher. Hier stellen sich die Familien von allein ganz einfach der Größe nach auf, denkt Micha Trepte. Für diese politisch inkorrekte Annahme gibt er sich in Gedanken selber eine Ohrfeige.
In den Gängen der Unterführung zur Adalbertstraße muss er mehr oder minder geschickt Leuten ausweichen, die entweder sehr langsam oder sehr aufgeregt sind. Einer rennt von Wand zu Wand und stößt jedes Mal mit voller Wucht seine Stirn gegen die Kacheln. In seinen dichten Augenbrauen sammelt sich das Blut aus der Stirnwunde, was ihm etwas Zombiehaftes verleiht.
Ein anderer redet, mitten im Weg stehend, auf eine Frau ein und gestikuliert dabei mit einer Bierflasche, deren Inhalt schon zur Neige gegangen ist: »Jeder Mann, der dich kennenlernt, muss ein glücklicher Mann sein.« Seine Augen sind so glasig, dass sie das Gesicht der Frau beim Reden gar nicht mehr fixieren können. »Jep«, sagt die Frau, und es klingt wie das Röcheln einer Sterbenden. Ihr Oberkörper schwankt vor und zurück. Ein weiterer Mann mit glasigen Augen springt von der Treppe auf die beiden zu. »Polizei«, schreit er, »draußen alles voller Polizei, ich sag dir, eine Weltverschwörung, aber hier unten sind wir sicher.« Ehe die beiden in der Lage sind, überhaupt zu registrieren, was er gesagt hat, ist er schon wie ein Molotowcocktail in Richtung der Bahnsteige an ihnen vorbeigeschossen und hat
dabei den Mann mit der blutigen Stirn umgestoßen. Das Paar schwankt weiter und wird von gezielt hin- und hereilenden Passanten angerempelt.
Hier braut sich heute was zusammen, denkt Micha Trepte. Aber an der Oberfläche ist noch gar keine Polizei zu sehen. Nur eine entfernte Sirene erinnert daran, dass heute der Tag vor dem 1. Mai ist. Micha Trepte ist ein i.-Mai-Veteran, der schon bei der Bolle-Plünderung 1987 dabei gewesen ist. Allerdings hat er das damals aus der sicheren Entfernung des U-Bahnsteigs Görlitzer Bahnhof beobachtet und war dann steinewerfend in Richtung Cuvry getürmt. Aber dabei gewesen ist dabei gewesen, jedes Jahr wieder, selbst mit Klara und Heike war er hier, aber Heike konnte dem Schwarzen Block nichts abgewinnen, sie sagte, sie habe bei einer wirklichen Revolution mitgemacht, und wenn die aus dem Schwarzen Block dabei gewesen wären, würden wir heute noch hinter der Mauer sitzen. Jeder auf seiner Seite.
Am Kottbusser Tor machte Micha Trepte zum ersten Mal in seinem Leben Bekanntschaft mit einer Kampflesbe. Am 1. Mai 1990 war er nicht rechtzeitig aus dem Niemandsland gekommen, das ordentlich in Kämpferinnen und Kämpfer trennte. Im Gegenteil, er hatte sich wie ein Selbstmordkommando zwischen die Frauen gestellt. Im Nachhinein sagte er sich, dass es wohl an seiner Kurzsichtigkeit lag, dass er den Lila Block mit dem Schwarzen verwechselte, dem er sich zugehörig gefühlt habe. Und weil er so locker flapsig die Frauen mit einem »Bleibt doch mal locker, Mädels« zur Weißglut gebracht hatte, blieb am Ende ein zartlila Veilchen über dem rechten Augenlid als Andenken, das sich länger hielt als eine echte Blume.
Selbst solche Klarheiten haben sich inzwischen in Luft aufgelöst, und Micha Trepte ist nicht traurig darüber. Irgendwie kommt ihm das ganze Revolutionsgetue im Nachhinein kindisch vor. Besser als damals wird es ihnen nie wieder gehen. Hosch sieht das anders, aber Hosch ist auch in Kreuzberg geblieben. Lange nichts von Hosch gehört. Hat er heute nicht sein Blind Date, der alte Schlawiner? Als es so was noch gar nicht gab, war Hosch
immer der, der die Frauen angesprochen hat, mit denen Micha dann auf die Matratze gegangen ist.
Zwei Bettler schnorren ihn an, eine Roma hält ihm ihr frierendes Kind hin, und drei junge, verhuschte Männer wollen ihm mit viel hingenuscheltem Text eine Obdachlosenzeitung verkaufen, noch ehe er die Bibliothek in der Adalbertstraße erreicht hat.
Das ist ganz sicher eine Kreuzberger Nummernrevue, und gleich treten drei Frauen mit dezent geblümten Kopftüchern auf und sprechen ihren Text auf Türkisch, denkt Micha, und genau als er unter dem aufgeständerten Bau des Neuen Kreuzberger Zentrums hindurchtaucht, kommen sie ihm entgegen. Alle drei mit grau geblümten Kopftüchern, türkisch sprechend und wider Erwarten sehr jung.
Als Micha Trepte im Herbst 1980 das erste Mal am Kottbusser Tor aus der U1 stieg, standen dort drei Panzer vor dem Eingang, und er dachte, jetzt bin ich mitten in den Dritten Weltkrieg geraten, dabei wollte ich doch nur dem Wehrdienst entgehen. Es
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