Walpurgistag
drei.« – »Dann haben wir jetzt neun Möglichkeiten. Wir sollten oben anfangen und uns von da aus nach unten arbeiten«, sagt Klara, und Paul bewundert sie für ihre Entschiedenheit. Er würde ihr am liebsten mit der Hand über die vor Anstrengung gerunzelte Stirn streichen, aber er hält dann doch nur sein Skateboard fest und starrt auf die Anzeige, bis die bei der Achtzehn stehen bleibt und die Tür sich öffnet. In der Achtzehn, Sechzehn und Vierzehn sind die Abstellräume abgeschlossen, in der Siebzehn und Fünfzehn haben sie bunt gestrichene Türen, und in der Dreizehn kann es auf keinen Fall gewesen sein. Paul druckst ein bisschen, als er sagt: »Die Dreizehn ist eine Pechzahl.« Klara lacht: »Bist du abergläubig?« Bleiben die Zwölf, Elf und Zehn, und die Spannung steigt bei Paul mit jeder Etage, die es nicht gewesen ist. In der Zwölf ist der
Abstellraum der Wohnung drei zwar offen, aber innen sind Regale voller Konservengläser, bis unter die Decke. Neben Stachelbeeren und Johannisbeeren, Erdbeeren, geschnittenen Möhren und Kürbis auch etwas Graues mit dunklem Pelz drum herum, das sich nicht mehr identifizieren lässt. Die ältesten Gläser tragen die Jahreszahl 1985. Es stinkt, wahrscheinlich steht deshalb die Tür zum Abstellraum auf. »Eklig, eingekochte Schimmelpilze«, sagt Klara, und sie laufen eine Etage tiefer in die Elf. Dort ist ebenfalls der Abstellraum der Wohnung drei offen. Der Raum ist bis auf vier Stapel alter Bücher auf dem Fußboden leer.
Sie probieren noch die Zehn, aber da klebt, den überstrichenen Rändern nach, schon seit Jahren ein Plakat an der Tür: »Dresdener Dixielandfestival 1986.« Das wäre ihm auch aufgefallen. »Bist du dir sicher, dass es Wohnung drei gewesen ist?« – »Ganz sicher, die Drei ist meine Lieblingszahl.
Klara schaut ihn jetzt an, als sei er schon immer ein Lügner und Spinner gewesen und sie habe es als Einzige in der Schule nicht wahrhaben wollen. Er hat alles falsch gemacht. Alles. Nie hätte er Klara davon erzählen dürfen. Vielleicht habe er das nur geträumt, so was komme ja vor, sie habe auch manchmal täuschend echte Träume, und so ein Mann, der sich einfach in einer Truhe aufrichtet, obwohl er tiefgefroren ist, das ist doch wirklich eher etwas, naja, Unwirkliches. Sie gehen zum Fahrstuhl. Bevor Klara den Knopf nach unten drücken kann, betätigt Paul den nach oben. » Wir müssen noch mal in die elfte Etage. Ich bin jetzt ganz sicher, dass es die Elf gewesen ist, es waren zwei gleiche Ziffern, und die Zweiundzwanzig gibt es nicht.« Klara folgt ihm eher widerwillig, und als sie mit dem Fahrstuhl eine Etage hochfahren, fühlt er, dass dieses geheime Band zwischen ihnen nicht mehr da ist. Einfach verschwunden. Paul ist zum Heulen zumute. Er geht in den Abstellraum und macht diesmal das Licht an, obwohl, sollte jemand in der Wohnung sein, das Geräusch des Relais sie verraten könnte. Aber in der Wohnung bleibt alles still. Paul schaut sich um. Er entdeckt in einer Ecke des Raumes ein zusammengeknülltes Stück Papier. Er entfaltet es und hält es
triumphierend hoch. Ganz deutlich kann Klara »Moskauer Eis« lesen. »Hier ist es gewesen, guck mal, vier Schleifspuren auf dem Fußboden, die bis zur Wohnungstür führen. Die haben die Truhe in die Wohnung gebracht. Wir müssen die Polizei verständigen. Gib mir mal dein Handy.« – »Nein, das ist sinnlos. Keiner wird uns glauben, schon gar nicht die Polizei. Die verständigen nur unsere Eltern, und die stellen dumme Fragen.«
Paul gibt auf, starrt auf die Schuhe seiner Mutter an seinen Füßen. »Das bleibt unser Geheimnis«, sagt Klara und legt auf dem Weg zum Fahrstuhl ihre Hand auf seine Schulter. Paul schiebt das Eispapier in die Hosentasche zu den anderen gefundenen Gegenständen des Tages, einem Matchboxautorad, das in Wolfsburg auf dem Bahnsteig lag, einer Legofigur (Seeräuber mit Augenklappe) aus dem Kinderabteil des ICEs, einer Murmel, die er in Neukölln aus dem Rinnstein geklaubt hat, und einem Perlmuttknopf vom Klamottencontainer des DRK, der liegen geblieben war, nachdem das Kind den Container verlassen hatte.
19.38 Uhr
Micha Trepte zieht die Schuhe aus und betritt eine Moschee
»Nee, nee, nee, eher streikt die BVG«, singt Micha Trepte und läuft einigermaßen beschwingt die Treppen von der U8 hinauf. U-Bahnhof Kottbusser Tor. Seine Endstation für heute: Kreuzberg. Eine Moschee muss noch vom Netz. Er fühlt sich viel besser. In der Gegend um die Oranienstraße ist er vor
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