Walpurgistag
aufgelösten Paul getroffen hat, der nun fast atemlos erzählt und gleichzeitig den Friseurladen im Auge behält, in dem Annja Kobe sitzt und von einer Friseurin braune Paste auf den Kopf geschmiert bekommt. Er ist sich sicher, diese Frau, die aus der Wohnung gekommen ist und ihm nachgeschrien hat, steckt hinter den mysteriösen Vorgängen, in die er Klara einzuweihen beschlossen hat.) Er habe die Truhe sofort wieder zugeklappt und vor lauter Aufregung erst einmal das Eis aufgegessen, es habe gut geschmeckt, aber dann sei ihm bei genauem Nachdenken sehr schlecht geworden, wegen Leichengift und so. Ob denn der Mann gefroren gewesen sei, fragt Klara ihn, er nickt, und sie beschwichtigt ihn, gefrorenes Fleisch, und sei es menschliches, verströme kein Leichengift, wenn er sich an die letzte Physikstunde erinnere, da sei das kurz zur Sprache gekommen. Da sei er ja gar nicht da gewesen, sagt Paul kleinlaut
und in der Hoffnung, Klara würde nicht weiterfragen. Ohne einzuatmen fährt er mit seiner Erzählung von dem seltsamen Mann im Abstellraum der Frau fort, die da gerade beim Friseur sitze und ihr Aussehen verändere. Jedenfalls sei ihm ganz schlecht geworden bei dem Gedanken, dass da jemand eine Leiche in der Kühltruhe versteckt habe, so wie er es neulich mal in der Zeitung gelesen habe, oder genauer gesagt am Kiosk, wo eins dieser täglichen Vorschauplakate der BILD hing, auf dem von einem Baby zu lesen gewesen sei, das eine Frau in der Kühltruhe eingefroren habe, warum, wisse er nicht. Aber ein Baby sei doch viel kleiner als ein ausgewachsener Mann, und wie sie sich das vorstellen solle, ein Mann in einer Kühltruhe, fragt Klara ihn. Aber Paul sagt, das sei wirklich so gewesen, und sie könnten es sich angucken, das Haus sei gleich nebenan. Aber das sei ja noch nicht alles gewesen, eine Leiche sei ja irgendwie ein Ding der Möglichkeit. Das Eigenartige sei, nein, stopp, er müsse anders anfangen: Nachdem er das Eis aufgegessen habe, habe er all seinen Mut zusammengenommen und noch einmal den Deckel angehoben. Und da sei ihm als Erstes aufgefallen, dass kein Licht anging in der Truhe, und deshalb habe er mal nach dem Stecker gesehen, und siehe da, der Stecker habe neben der Truhe gelegen, und trotzdem war der Mann ganz kalt und auch das Eis nicht aufgetaut. Das verstehe nun, wer will. Aber das sei noch nicht alles gewesen, denn der Mann habe sich plötzlich bewegt. Er habe seinen Oberkörper in Zeitlupe und wie ferngesteuert Zentimeter für Zentimeter langsam aufgerichtet, er habe die Augen aufgemacht, die Augenbrauen und die Lider seien ganz bereift gewesen, was ihm das Aussehen eines Schneemanns gegeben habe. Und dann habe er irgendwas gemurmelt wie: Scheiße, wo er denn überhaupt sei, oder so was. Der Mann habe ihn dabei nicht angesehen, sondern nur auf seine eigenen Füße gestarrt, die in ziemlich alten Schuhen gesteckt hätten.
Klara schaut Paul jetzt doch etwas ungläubig an. Bestimmt habe der Mann nur den Eingefrorenen gespielt. Der wollte ihn wohl nur erschrecken. Oder er habe sich das nur eingebildet. Neulich in der Schule habe er doch auch diese Geschichte geschrieben
mit den Menschen, die über Berlin fliegen und die Gedanken der anderen lesen konnten, vielleicht habe ihm auch bei der Frage des ohne Energiezufuhr eingefrorenen Mannes nur seine Phantasie einen Streich gespielt. So viel habe er in der Schule gar nicht fehlen können, dass er nicht wisse, dass nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ein Mann nicht aus sich selbst heraus einfrieren könne. Der Eingefrorene habe sich ja dann auch gleich wieder hingelegt, und er habe den Deckel hastig geschlossen, nachdem er Geräusche in der Wohnung gehört habe. Na, und den Rest kenne sie ja. Die Frau aus der Wohnung schaut ihn jetzt direkt durch den Spiegel an. Sie kann aber nicht weg, weil ihr gerade lauter Aluminiumstreifen ins Haar geklebt werden, was ihr wiederum das Aussehen einer Außerirdischen verleiht.
Wenn Klara sich traue, wolle er ihr das mit dem Mann beweisen. Sie müssten sich aber beeilen, bevor die Frau da beim Friseur wieder normal aussehe. Klara ist einverstanden, und so laufen sie unter der Unterführung der S-Bahn hindurch über die Möllendorffstraße in das Hochhaus, wo die Eingangstür sperrangelweit offen steht.
»Welche Etage ist es?«, fragt Klara. »Hm«, sagt Paul, »vergessen, muss ich mal nachdenken.« Er schließt die Augen, öffnet sie, starrt auf die Etagenknöpfe. »Irgendwas Zweistelliges. Auf jeden Fall Wohnung
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