Walpurgistag
Viola macht das Herumgerutsche nervös, sie steht auf und schaut sich im Zimmer um. Eine Wand wird von einem Regal mit Truckmodellen bedeckt, die von hinten beleuchtet sind. Die meisten haben eine Coca-Cola-Reklame auf der Plane. Sie überlegt, ob Ulfi, der sicher Ulf heißt, die Modelle selbst gebaut hat, aber als sie ihn fragen will, kommt Melanie wieder ins Zimmer, im Arm einen winzigen Säugling in einem viel zu großen schmutzig gelben Strampler. Das Gesicht ist mit Milchschorf bedeckt. Das Kind miaut wie eine kleine Katze und windet sich. »Das ist Anastacia, wie die Sängerin, wissen Sie, die mit den vielen Brillen. Ist sie nicht süß?« Sie hat es bestimmt mit Absicht geweckt, um es mir zu zeigen wie einen neu erworbenen Besitz, denkt Viola und sagt mit einem weichen Timbre: » Ja, sehr süß.«
Sie geht zu Melanie und ergreift die winzigen Finger des Babys, das ihren rechten Zeigefinger sogleich umklammert. »Babys sind was Wunderbares, nicht?«, sagt Melanie. »Aber leider sind sie ja nicht lange so klein. Außerdem hat sie Blähungen. Und das nervt die Cousine. Die ist ja noch so unerfahren.« Melanie wippt, um das Kind zu beruhigen. Viola schaut sie an und überlegt, wie alt sie sein könnte. Die Spanne reicht von zwanzig bis vierzig. Schicksalsergeben könnte man ihren Gesichtsausdruck nennen, denkt Viola, dadurch wirkt sie älter, als sie wahrscheinlich ist. Vierzigjährige heißen nicht Melanie, die heißen Heike oder Simone. Oder Viola.
Plötzlich steht eine verschlafene Gestalt im T-Shirt im Türrahmen. Sie blinzelt durch ihre langen dunklen Haarsträhnen ins Licht der Stehlampe. » Warum nimmst du mir Staci weg?«, fragt sie Melanie. »Ich bin froh, dass sie schläft.« – »Aber sie hat geheult, und ich wollte, dass du mal ein bisschen Ruhe hast.« – »Ach, leck mich, was weiß ich, was du wolltest, sie hat nicht geschrien, solange sie in meinem Bett lag, ich wache ja schon auf, wenn sie nur laut atmet.« Sie nimmt Melanie das Kind aus dem Arm und beugt sich so zu ihm hinunter, dass die Haare den Säugling wie hinter einem Vorhang verbergen. »Blöde Tante, was, weckt dich einfach
auf«, und zu Melanie gewandt: »Bist ja nur neidisch.« – » Worauf soll ich neidisch sein?«, fragt Melanie. »Hab selber drei.« – »Meins ist schöner«, sagt die Cousine leise im Vorbeigehen, ohne Viola zu bemerken. Sie ist noch sehr jung, wahrscheinlich nicht einmal zwanzig. Melanie läuft ihr hinterher. » Warte doch, Anastacia heult, weil sie nass ist. Lass mich das machen.«
Ulfi starrt auf den Bildschirm, wo die beiden keuchenden Kämpfer zu sehen sind, wie sie in schnellem Schritt auf einen Parkplatz zuschreiten. Viola bemerkt, dass es kaum Buchstaben im Zimmer gibt. Das Wort »Juni« auf dem Kalender, und dann fällt ihr noch ein Beipackzettel auf, der unter den Tisch gerutscht ist. Tussidermil lässt sich von Weitem entziffern. Und die Cola-Reklame auf den Trucks. Kein einziges Buch, noch nicht mal eine Fernsehzeitschrift. Ein Erker voller gut gepflegter Grünpflanzen. Ein Aquarium, zu dem sich Viola hinabbeugt.
»Ist das ein Wels?«, fragt sie Ulfi. Zum ersten Mal huscht so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht. Er springt auf, stellt den Ton des Fernsehers ab und tritt neben sie vor das Aquarium. »Sie kennen Welse?« – »Ich esse sie gerne.« – »Ich könnte nie einen Wels essen. Ich züchte sie.« – »Der ist aber schön, wie heißt der?« – »Das ist ein roter Hexenwels, aus der Familie der Loricariidae.« Viola sieht ihn aufmerksam an. Ein Spezialist, denkt sie, der in der Schule bestimmt nur schlechte Noten hatte, aber auf dem Gebiet schlägt ihn keiner. »Auf Deutsch Harnischwelse«, setzt er hinzu, »die kommen nur in Mittel- und Südamerika vor.« – » Wie viele sind es?« – »Ich weiß nicht genau, sie verstecken sich. Gekauft habe ich drei, denn man weiß nie hundertprozentig, ob es Weibchen oder Männchen sind. Ich hatte Glück, es gab schon zweimal Nachwuchs. Aber sie zum Ablaichen zu bewegen, ist schwer.« – »Wie bewegt ein Mensch Welse zum Ablaichen?« – »Die Umgebung muss stimmen. Die Pflanzen, das Futter, das Wasser. Ich habe bei meinen Eltern in Peine eine Regentonne. Da ist das Regenwasser besonders gut für Aquarien geeignet.« – »Aber wie kriegen Sie das Wasser nach Berlin?« – »Na, mit der Bahn, in Kanistern.« – »Und wieso der Aufwand, gibt es dafür
nicht Wasseraufbereitungsanlagen?« – »Zu teuer.« Er reibt Daumen, Zeige- und Mittelfinger
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