Walpurgistag
aneinander. »Harnischwelse sind Höhlenbrüter, die Weibchen legen ihren Laich in ausgehöhlte Baumstämme oder in die Kokosnuss da unter den Pflanzen. Sehen Sie die?« – »Ja«, sagt Viola. Laich suchen ist immerhin besser als Wrestling gucken. »Und wie machen die das mit der Vermehrung? « – »Die Eier werden vom Weibchen in Form von einer Traube an die Höhlendecke geklebt. Sehen aus wie Weintrauben, nur kleiner natürlich. Dann muss das Männchen ran. Das muss dem Gelege durch Fächeln mit den paarigen Flossen Frischwasser zuführen. Wenn Eier absterben, werden sie vom Vater aus dem Gelege entfernt.« – »Hexenwelsweibchen müsste man sein«, sagt Viola und verfolgt die eleganten Bewegungen des Fisches, der zwischen den Grünpflanzen verschwindet. »Und wie lange passt das Männchen auf?« – »Nach einer Woche schlüpfen die Jungfische. Aber sie besitzen dann noch einen riesigen Dottersack, den sie erst aufzehren müssen. So lange bleiben sie beim Vater. Danach müssen sie die Höhle verlassen.« – »Und was fressen die sonst so?« – »Am liebsten gefrorenen Spinat.«
Plötzlich ist das Geräusch einer jubelnden Meute im Zimmer. Melanie ist unbemerkt zurückgekommen und hat den Ton wieder laut gestellt. »Kommt mal, jetzt geht’s los mit den Trucks. Ich bin für den Blonden.«
Die beiden Wrestlingtypen sind inzwischen in Fahrzeuge mit riesigen Rädern gestiegen und starten die Motoren. Ihre Gesichter sind hassverzerrt, aber nichts passiert. »Los doch«, schreit Melanie, und zu Viola gewandt: »Ich bin für den Blonden.« – »Wie heißen die beiden Kämpfer eigentlich? Die haben doch immer so fantasievolle Namen beim Wrestling. « – » Keine Ahnung, ist auch egal. Nun mehrt euch mal aus«, schreit Melanie, und dann wieder zu Viola, etwas leiser: » Was arbeiten Sie denn eigentlich im Theater?«
Viola ahnt, dass es keinen Sinne hätte, ihnen zu sagen, dass sie als freie Dramaturgin beschäftigt ist. Selbst habilitierten Naturwissenschaftlern fällt es schwer zu verstehen, was sie da tut. Sie erwähnt manchmal, dass die Nazis den Beruf erfunden haben, um
etwas mehr Kontrolle in den Betrieb zu bekommen, aber sie ist sich nicht sicher, ob das überhaupt stimmt. Wenn sie betrunken ist, erklärt sie es mit dem Satz: »Der Dramaturch liest Dramen durch.« Aber wer weiß, ob Melanie das versteht. »Ich bin Souffleuse, ich sag den Schauspielern vor, wenn sie den Text vergessen haben.« – »Ah«, sagt Melanie, aber es klingt etwas ratlos. »Ich war nur einmal im Theater, in Hannover, im letzten Schuljahr. Da musste ich aber in der Pause gehen, weil ich brechen musste. Ich war mit Vivian schwanger. Das Stück war von Goethe, das weiß ich noch, aber nicht das mit Gretchen. Naja, ist auch schon sieben Jahre her.« Von wegen vierzig denkt Viola, wenn sie nicht ein paarmal sitzen geblieben ist in der Schule, ist sie höchstens Mitte zwanzig.
Ulfi starrt weiterhin gebannt auf den Bildschirm, wo die Kontrahenten mit Trucks aufeinanderzurasen, die Maschinen verkeilen lassen und dann den Rückwärtsgang einlegen, um erneut mit noch größerer Geschwindigkeit aufeinander aufzuprallen. Melanie hat das Interesse am Wrestling verloren und knabbert an der Fernbedienung. » Was ich mich gefragt habe«, sagt sie, »wenn Sie alle immer nur eine Nacht bei einer Familie übernachten, aber eine ganze Woche in Berlin sind, was machen Sie dann an den anderen Tagen? Da haben Sie doch gar keine Unterkunft. Von uns aus können Sie auch morgen noch hierbleiben.«
Die Scham breitet sich schlagartig in Violas Körper aus und lähmt jede Bewegung. In den Erdboden kann sie nicht versinken, höchstens in den schmuddelig weißen Teppichboden. Melanie Schöller hat das mit der Suche nach einem Schlafplatz völlig ohne Ironie gelesen. Warum auch nicht? Ironie ist etwas für Leute, die es sich leisten können. Viola kann Melanie nicht sagen, dass die Übernachtung hier auf dem Kunstledersofa Kunst sein soll. In ihrem Fall ist es eindeutig als Kunst getarnter Missbrauch von Gastfreundschaft. Sie wünscht sich jetzt wirklich einen Asthmaanfall und versucht, sich die Situation schönzureden. Neukölln ist eine andere Welt, Berlin besteht aus dreiundzwanzig Dörfern. Ich bin zu Besuch im übernächsten Dorf. Was, wenn sie nun fragen,
aus welchem Ort sie kommt, was soll sie antworten? Sie kann sie doch nicht anlügen und Aschersleben sagen oder Neustrelitz. Ob sie Pankow kennen? Sie sind noch nicht lange in Berlin und wahrscheinlich
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