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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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sie Autofahren aus ökologischen Gründen ab. Haareblondieren allerdings nicht. Ich finde es ziemlich lästig, mir die Haare alle paar Monate unter diesen primitiven Wohnbedingungen zu bleichen. Morgen klaue ich die Papiere einer Dunkelhaarigen.
    Wider Erwarten habe ich mich damals schnell an dieses Leben im Untergrund gewöhnt. Ich verschwende inzwischen auch nicht mehr viele Gedanken an Vaters Zustand, außer natürlich, wenn
Ausnahmesituationen wie diese unser Leben durcheinanderbringen. Seit vier Jahren, die man relativ ruhig nennen kann, schaue ich regelmäßig sonntagnachmittags um drei in die Truhe und schreibe mein Protokoll, mit den immer gleichen Angaben.
    In normalen Zeiten wäre Papa in diesem Jahr in Rente gegangen, aber die Zeiten sind für einen 1937 geborenen Ostdeutschen nicht normal. Vor elf Jahren hat man ihn in den Vorruhestand geschickt, und das ist letztendlich der Grund, warum ich mit ihm in diesem Keller lebe.
    Wäre ich am 30. November 1991 nicht in seine Wohnung gefahren, hätte nicht ich ihn in der Kühltruhe gefunden, sondern die Polizei, die spätestens drei Wochen nach seinem Verschwinden von mir benachrichtigt worden wäre. Dann hätte die ein Problem gehabt und nicht ich. Allerdings läge Papa jetzt längst tot unter der Erde. Und man würde mich nicht per Haftbefehl wegen Mordes suchen. Mord verjährt nicht. Aber ich habe irgendwann aufgehört, mich darüber zu ärgern, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.
    Dabei habe ich oft überlegt, ob ich mich nicht stellen sollte, aber ich bin einfach zu viele Jahre neben der Spur, als dass ich noch Hoffnung hätte, mir würde jemand die Wahrheit glauben. Die Indizien sprechen gegen mich. Ich kann die Fragen in diesem Verhör alle herbeten: Die Geschichten, die Sie uns hier erzählen, sind physikalisch unmöglich. – Wieso sind Sie nicht schon vor elf Jahren darauf gekommen, sich vertrauensvoll an uns zu wenden? – Wenn Sie glauben, dass er lebt, warum haben Sie ihn nicht aufgetaut? Sie hätten doch im Sommer nur mit ihm an die Ostsee fahren und ihn dort an den Strand legen brauchen.
    »Das Einzige, was dich in diesen Zustand gebracht hat, ist dein mangelndes Vertrauen in die Justiz«, sagt Alex jedes Mal, wenn die Sprache darauf kommt. »Mit einem guten Anwalt wärst du einsdreifix aus der Sache raus. Ich kenne einen, der in Ausländerfragen und Illegalität bewandert ist, du bist schließlich nie Bürgerin der Bundesrepublik geworden. Als du in den Untergrund gegangen bist, hattest du deine alten DDR-Papiere noch.
Der Anwalt macht dich wieder legal. Und die Beweislast, dass du deinen Vater in diesen Zustand gebracht hast, liegt bei der Justiz.« – »Aber ich kann doch nicht erklären, dass Papa ohne Stromzufuhr friert.« – »Mein Gott, du musst doch nur den Stecker der Truhe reinstecken, dann friert er wieder nach sämtlichen Hauptsätzen der Thermodynamik.«
    Damit hat Alex natürlich recht, aber das ist inzwischen nicht mehr der Grund, warum ich mich nicht stelle. Ich habe Angst, dass sie Vater auftauen, verbrennen und vergraben. Denn ich bin der Meinung, dass er noch lebt, wie auch seine Bohnen und Erbsen und Möhren in den Kühlzellen noch gelebt haben. Alex hält das für Quatsch und Liebig als Beerdigungsmusiker sowieso. Bei Aki bin ich mir nicht so sicher, seine Großmutter hat ihm ein gewisses Gefühl für Transzendenz mitgegeben.
    Nein, Alex würde auch unter Folter dichthalten. Liebig ebenfalls, vorausgesetzt, sie flößen ihm keinen Alkohol ein. Alex und Liebig sind einverstanden mit ihrem Leben am Rand der Gesellschaft. Die würde es schon extrem nerven, wenn der Berliner Kurier sie ausquetschen würde oder die BILD. Und einem wie Aki glaubt eh keiner etwas. Jetzt trägt er schon wieder die Truhe ans andere Ende des Bunkers. » Was soll das, Aki, willst du Papa auf den Transport vorbereiten?« – »Er braucht Auslauf.« – »Ich fürchte, du musst mal raus.«
    Vor seiner Zeit im Zirkus soll Aki Gewichtheber in der rumänischen Nationalmannschaft gewesen sein, hat mir seine Großmutter erzählt. Ich habe Papa schon nach ihm gefragt, aber er hat wie immer nicht geantwortet. Wenn ich mich recht erinnere, hat Papa sich aber für rumänische Gewichtheber ohnehin nie interessiert, das waren für ihn gedopte Kampfmaschinen, und wer weiß, welchen Namen Aki damals hatte. Wir haben hier im Laufe der letzten Jahre alle unsere Identitäten durcheinandergebracht.
    Ich sage Aki, er solle mal nachschauen, wo Liebig bleibe.

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