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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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noch nicht weit aus Neukölln herausgekommen. Bei Pankow würde sie nicht lügen. Aber Melanie und Ulfi stellen keine Fragen mehr. Viola bedankt sich für das Angebot, morgen werde sie woanders schlafen. Genau genommen zwanzig Minuten mit der Ringbahn entfernt. Zu Hause. Bei ihrer Familie. Aber das sagt sie nicht.
    Das Wrestling ist zu Ende. Frau Schöller wechselt zu SAT 1. » Wo iss ’n Harald Schmidt?«, fragt sie ihren Mann. »Heut ist Montag, außerdem wär der längst zu Ende«, sagt Ulfi. »Wie spät ist es denn?« – »Gleich eins.« – »Oh, da müssen wir aber dringend schlafen gehen, was, Ulfi?«, sagt Melanie, und Ulfi steht auf und räumt den Aschenbecher und die Cola-Flasche weg. »Sie können ja den Fernseher dann selber ausmachen, bis morgen.« Mit einem Handgriff zieht Ulfi das Sofa auseinander. Melanie drückt ihr das Bettzeug in den Arm. »Gute Nacht.« Viola atmet auf.

0.45 Uhr
In ihrer letzten Nacht als Danielle Schneider packt Annja Kobe ihre Siebensachen
    Der Luftzug, der durch die offene Tür des Bunkers hereinkommt, lässt die Kerzen flackern, als huschten die Gespenster toter Kommunisten an den Wänden entlang, ohne sich für eine Richtung entscheiden zu können.
    Gestern hat jemand das Stromkabel gekappt. Es ist mein letzter Abend in dem Keller unter der Backfabrik in der Prenzlauer Allee, eigentlich könnte ich mich auf das Sofa legen und noch drei Stunden schlafen, aber mir fehlt die Ruhe.
    Mit Alex habe ich abgemacht, dass wir um vier hier weg sind. Ein gemieteter Transporter steht in der Tiefgarage bereit. Sie ist öffentlich zugänglich und nicht videoüberwacht. Der Wachschutz sitzt auf der anderen Seite des Geländes und fängt seinen nächsten Rundgang gegen halb sechs an. Wenn wir es bis dahin nicht geschafft haben, müssen wir bis morgen Nacht warten. Übermorgen ist es zu spät, denn da werden die Bauarbeiter durch die Wand des Bunkers brechen, in dem ich seit sieben Jahren lebe. Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie plötzlich vor uns stehen und einen Blick in die Kühltruhe werfen, in der mein Vater liegt.
    Alex soll den Transporter fahren, und Liebig hat die Autoschlüssel. Aber außer Aki ist noch niemand hier. Liebig, der im Nachbarhaus wohnt, ist wahrscheinlich beim Schachspielen oder trinkt noch einen Kaffee im Torpedokäfer, und Alex wird sich irgendwo draußen in der Stadt aufhalten. Kein Grund, unruhig zu sein. Wir liegen gut in der Zeit.
    Aki fängt an, sich zu langweilen. Ständig muss ich ihm sagen, dass er sich seine Kraft für den Transport aufheben soll. Er hat schon zum vierten Mal die Kühltruhe mit einem Arm gestemmt und kurz in die Luft geworfen, sodass ich Angst bekommen habe,
sie könnte gegen die niedrige Decke knallen und Papa verletzen. Schon einmal musste ich seinen rechten Arm eingipsen. Das war vor sieben Jahren, als wir Hals über Kopf aus der Schliemannstraße auszogen, unter Zurücklassung der Kühltruhe, in der Papa seine letzten Jahre verbracht hatte. Im Hausflur ist er mir dann von der Schulter gerutscht und auf die Fliesen gefallen. Papa hat nicht mal mit der Wimper gezuckt, aber der Arm war seltsam abgeknickt. Es sieht so aus, als wäre er ein bisschen schief wieder zusammengewachsen. Wahrscheinlich hatte ich ihn Jahre zuvor schon gebrochen. Einen Tag, nachdem ich Vater am 1. Dezember 1991 in eingefrorenem Zustand gefunden hatte, musste ich nämlich mit dem Rohr des Staubsaugers auf den Arm einschlagen, weil er über den Rand der Truhe ragte und ich den Deckel nicht zubekam.
    Anstrengen muss sich Aki nicht bei seinen Wurfaktionen. Er ist jahrelang von Zirkus zu Zirkus gezogen und hat den stärksten Mann der Welt gespielt, ehe er mit seiner Familie hier im als Asylbewerberheim genutzten Bürogebäude des ehemaligen Backwarenkombinates unterkam. Aki bekommt die Truhe, ohne fremde Hilfe und ohne Papa aus seinem kühlen Grab zu heben, in den Transporter. Fahren muss ihn Alex. Ich selbst kann es nicht machen, nicht weil ich das Autofahren nicht beherrsche, sondern weil mein Ausweis auf den Namen Danielle Schneider vergangene Woche abgelaufen ist und ich dringend neue Papiere brauche. Ich will nicht riskieren, angehalten und nach dem Führerschein gefragt zu werden. Wer weiß, ob Danielle Schneider jemals eine Fahrerlaubnis gemacht hat. In der Brieftasche, die ich ihr vor einem Jahr während einer Theatervorstellung geklaut habe, war er jedenfalls nicht. Dem Foto nach zu urteilen, dem ich mich, wie ich finde, recht gut angeglichen habe, lehnt

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