Walpurgistag
stellte sich dann aber bald heraus, dass es nur eine Übung der Amerikaner war, die in den auf Abriss stehenden Gebäuden den Häuserkampf übten. Sie schossen alles in Klump, geduldet vom Berliner Senat, der hier eine Autobahn durchbauen wollte. Manchmal trafen sie in den Ruinen auf einen Obdachlosen, stromernde Kinder oder Passanten, die sich verlaufen hatten. Am Ende sah es hier aus wie nach dem Krieg. Micha schloss sich den Hausbesetzern an, um ein paar der zum Abriss freigegebenen Häuser zu retten, denn es gab kaum bezahlbare Zimmer in der Stadt, und die Wirtinnen waren von ausgesuchter Unhöflichkeit. Sie drohten mit dem Kuppelparagraphen, wenn ein Untermieter es wagte, ein Mädchen in sein Zimmer mitzubringen. Er besetzte dann die Oranienstraße 198 mit, ein Haus am Heinrichplatz, wo er im Nebenhaus seinen letzten Auftrag für heute hat. Er kann sich nicht erinnern, dass es damals Moscheen in der Nachbarschaft gegeben hat. Aber wahrscheinlich haben sie sich einfach nicht dafür interessiert. Waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit ihren Kämpfen und ihren Beziehungskisten. Und ständig dabei, sich das Tränengas aus den Augen zu
reiben. Ihm scheint es in der Erinnerung, die Oranienstraße und der Heinrichplatz wären in den Zeiten des Häuserkampfs in dichten Nebel gehüllt gewesen. Im Gegensatz dazu ist die heutige Oranienstraße von ausgesuchter Lieblichkeit. Es gibt kaum noch eins der Geschäfte aus seiner Besetzerzeit und bis auf wenige Ausnahmen auch keine der Kneipen mehr, die damals Bierstampen mit Soleiern und Bockwurst als einzigem Speiseangebot waren. Die Herrenausstatter sind Boutiquen gewichen, und die Kneipen heißen nicht mehr Zum Hammer oder Zur Gemütlichkeit, sondern Bateau Ivre oder Café Jenseits. Auch in der Nummer 198 war damals noch eine Kneipe. Der Wirt mochte keine Besetzer, »Kommunistenpack«, wie er sie nannte, und keine Türken, weil die selten oder gar nicht tranken. Aber irgendwann gab es nur noch sie. Micha Trepte hat nie einen Gedanken daran verschwendet, wo die alteingesessenen Kreuzberger eigentlich hin sind, nachdem ihre Häuser geräumt und abgerissen oder besetzt worden waren. In die Hochhaussiedlungen nach Rudow oder Reinickendorf? Auf den Friedhof? Ins Siedlungs-oder Reihenhäuschen an den Westberliner Rändern? In der 198 gab es parterre eine alte Frau, die sich weder von den Amerikanern noch von den Besetzern hatte vertreiben lassen. Sie sagte damals den Satz: »Det sind doch allet Bürjerkinder. Die werden schneller wieder Spießer, als ick mir umdrehn kann.« Daran muss Micha manchmal denken, wenn er seine Vierraumwohnung in Mitte mit Frau und Kind darin durchschreitet.
Auf der Oranienstraße kommen ihm jede Menge Leute in schwarzen Kapuzenjacken und Armyhosen entgegen. Sie bewegen sich in Grüppchen und haben Bierflaschen in der Hand. Micha fragt einen mit einem unmodischen hochgezuckerten Irokesen, was denn in der anderen Richtung los sei. »Randale«, sagt der, und: »Konzert Oranienplatz, Alta.« – »Wer?«, fragt Micha, ebenso militärisch knapp. »Goldene Zitronen«, antwortet der Punk. »Die gibt’s noch?« – »Dich gibt’s doch ooch noch«, sagt der Punk und trollt sich zu seinen Kumpels.
Micha betritt den Hausflur. Eine Klingelanlage existiert nicht. Der Stille Portier muss das letzte Mal um 1961 erneuert worden
sein. Micha läuft im Abstand einer Treppe zwei bärtigen Männern hinterher, die aber in einem Import-Export-Büro verschwinden. Ihm kommt eine ältere Türkin mit einer orangefarbenen Kaffeemaschine entgegen. Der Glasbehälter hat einen Sprung, und der Stecker schlackert um ihre Beine. So eine benutzt seine Schwiegermutter heute noch. »Nicht totzukriegen«, sagt sie immer. Die der Türkin wohl, denn Micha sieht noch, wie sie sie im Hof in den Müllcontainer wirft. Dann besinnt sie sich aber noch mal und holt den Glasbehälter wieder heraus. Nach drei Schritten in Richtung Straße dreht sie sich um, geht zurück und nimmt auch den Rest mit.
Micha Trepte will über solche Seltsamkeiten nicht länger nachdenken. Dabei fällt ihm ein, dass er durch sein Ablesen schon in eigenartige Welten kommt, Moscheen, Kirchtürme, Ampeln, Bordelle. Am Tag sind Letztere abtörnend, haben so einen schick und sind selten von ausgebildeten Handwerkern eingerichtet worden. Und oft macht auch ein widerlich verschwitzter Lude die Tür auf. Oder die Puffmutter, um die sechzig, in Schlüpper und BH. Eine bot ihm nach dem Ablesen an: »Na, Chef, noch ein
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