Walpurgistag
schrecklich nach Scheiße stank. Die Ehe ging auch nicht gut. Die Cousine wurde irgendwann zurückgeschickt in die Türkei, und die Familie sprach von dem Nazihund, der das Glück eines Paares zerstört habe. Man neigte eben zur Dramatik in ihrer Familie.
Seit zehn Minuten steht ein Hubschrauber über ihr in der Luft, als würde er sie verfolgen. Der Oranienplatz ist voller junger Menschen. Auf der Bühne stehen Musiker, es ist schrecklich laut, und Aso holt ihr lila Kopftuch aus der Tasche und knotet es sich fest über die Ohren.
Sie geht einmal diagonal über den Platz und dann noch mal von der anderen Seite. Aber sie sieht weder ihre Tochter noch deren Freundinnen, auch den Oberarzt nicht, was ihr Herz etwas leichter macht. Ihre Tochter soll zur Schule gehen, mindestens zehn Jahre, und dann soll sie einen guten Beruf lernen, und dann kann sie immer noch heiraten. Auch dass ihr Sohn die schiefe Bahn verlässt und lieber die gerade geht, wäre nicht schlecht. Aber Aso weiß, dass sie nicht zu viel verlangen darf. Ihr Mann ist zum Beispiel nicht mehr lebendig geworden, da konnte ihr auch Allah nicht helfen.
Aber vielleicht wird es ja noch etwas mit der Kaffeemaschine. Denn im 129er-Bus, mit dem sie nach Hause fahren will, sitzt ihr ein etwas verwegen gekleideter Mann mit langen verfilzten Zöpfen gegenüber, der sie fragt, was ihrer Maschine, die sie auf dem Schoß hält, denn fehle. Aso imitiert sehr geschickt das Röcheln und Verpuffen, mit dem die Maschine sich in letzter Zeit bemerkbar gemacht hat. Und seit heute Morgen gehe sie gar nicht mehr. Der Mann behauptet, er wisse, was es sei. Eine Sollbruchstelle des Gerätes. Wäre später durch einen Neuerervorschlag behoben worden, an dem seine Wenigkeit beteiligt gewesen sei. Aso ist beeindruckt. Er fragt sie, ob er ihre Maschine reparieren dürfe. Er habe mal in dem Betrieb in Spindlersfeld gearbeitet, der die hergestellt habe, nicht ganz freiwillig, Bewährung in der Produktion, falls
sie wisse, was er meine. Sie schüttelt den Kopf. Wenn man sich nicht an die Regeln gehalten hätte, habe man körperliche Arbeit leisten müssen. Heute würden die jungen Leute nur herumhängen und auf dumme Gedanken kommen, sagt Aso, eine Bewährung in der Produktion wäre da doch gar nicht schlecht, und übergibt dem fremden Mann ihre Maschine. »Mein Name ist übrigens Alex. Soll ich die Maschine in die Adalbertstraße oder ins Urban-Krankenhaus bringen, Frau Aksoy?« – »Urban«, sagt Aso und wundert sich, dass sie sich nicht wundert, woher der Mann ihren Namen und ihre Arbeitsstellen kennt.
19.55 Uhr
Hosch wartet vergeblich und fährt dann zur Champions League
Fünf Minuten vor der Zeit ist die wahre Pünktlichkeit. Mit Erschrecken stellt Hosch fest, dass es in der Schaubühne zwei Etablissements gibt. Ein Café und eine Lounge. Er entscheidet sich für die Lounge, da durch das Café all jene durchmüssen, die ins Theater wollen. Um 19.30 Uhr, hat er gesehen, hat das Stück Goldene Zeiten angefangen, und um 21.30 Uhr beginnt eine Choreographenwerkstatt. Anschließend Tanz in den Mai. Hoffentlich will Ina nicht tanzen gehen.
19.58 Uhr
Hosch bestellt ein Bier. Er hat zehn von den Schmerztabletten, die ihm der Arzt auf der Intensivstation heute Morgen mitgegeben hat, auf einmal genommen. Jetzt sieht er die Welt wie durch Zuckerwatte. Ihm fällt ein, dass sie gar kein Erkennungszeichen ausgemacht haben. So was wie: »Hunger nach Sex siehst du in meinen Augen«, oder: »Ich habe eine leicht schmutzige Binde um den Kopf.« Hosch hält unschlüssig sein Handy in der Hand. Kann sich nicht entschließen, eine SMS zu schreiben.
20.00 Uhr
Im Kupferbecken röstet der Tag. Röstet oder rostet? Weiß er nicht mehr. Hat auch vergessen, von wem die Zeile ist. Hosch stellt sich kurz vor, was passieren wird, wenn sie die Schüchternheit durch ein oder zwei alkoholische Getränke überwunden haben. Gehen wir zu mir oder zu dir oder in ein Ku’damm-Hotel? Darf er sie küssen? Wird er sie ausziehen, und wie macht man das überhaupt? Anna zog sich seit Jahren immer selbst aus, bevor sie ins Bett gingen, wenn sie denn überhaupt mal da war. Ob sie in diesem Moment auch irgendwo auf der Welt fremdgeht? Der Adrenalinspiegel im Krieg soll ja eh so hoch sein.
Da kommt das doch sicher in den Hochsicherheitstrakten von Hotels vor, nach einem Drink in der Lounge, dass man nicht allein sein will. Leben um jeden Preis. Anna spricht nie darüber, und er fragt nicht. Warum muss er ausgerechnet jetzt
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