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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Nümmerchen? «, worauf er vierzehn Tage lang keinen mehr hochkriegte.
    Er findet die Moschee unter dem Dach, tritt in den Vorraum, dessen Fußboden mit schweren Teppichen ausgelegt ist, setzt seine Tasche ab und zieht die Schuhe aus. Es ist warm hier drin, sie haben gut geheizt, aber Micha ist gekommen, um ihnen den Gashahn abzudrehen. So leid es ihm tut.

19.52. Uhr
Aso Aksoy sucht ihre Tochter Emine unter Goldenen Zitronen
    Aso Aksoy holt die Kaffeemaschine wieder aus dem Müllcontainer. Sie hat ihren Mann verloren, sie hat ihren Sohn verloren, sie ist dabei, ihre Tochter zu verlieren, da will sie wenigstens die Kaffeemaschine behalten, auch wenn sie kaputt ist und der Cousin ihres Schwagers, der einen Technikladen mit Reparaturabteilung in der Oranienstraße hat, nur abwinkte. »Die ist Schrott, die kannst du wegwerfen, ich verkaufe dir für zwanzig Euro eine neue.« Aber Aso Aksoy wollte keine neue. Sie will auch keinen neuen Mann und keine neuen Kinder.
    Heute Nachmittag war sie in Moabit, hat sich freigenommen vom Lebensmittelladen. Wollte Miran besuchen. Aber sie ist nicht vorgelassen worden zu ihrem Sohn in der Untersuchungshaft. Der alte, dicke Uniformierte an der Pforte des Gefängnisses sagte: »Geben Sie mir mal den Persilkarton für Ihren Sohn.« Sie hat nicht verstanden, was er mit Persilkarton meinte, bis er ihr die Tüte abnahm und mit dickem schwarzem Stift »Miran Aksoy« darauf schrieb, den Namen musste er sich aber dreimal buchstabieren lassen. »Früher hießen die Knackis noch ordentlich Werner Gladow oder Gustav Völpel, gut, ein Franz Redzinski war auch mal dabei, aber der hatte dann wenigstens noch einen richtigen Spitznamen, Bomme. Heute haben fast alle hier nur noch solche Zischnamen, die sich keiner mehr merken kann.« Das hat Aso sich anhören müssen, und es fiel ihr schwer, sich die Namen der ordentlichen Gangster zu merken. Auf dem Rückweg zur U-Bahn sprach sie vor sich hin: »Gladow aus Kladow (wo ihre Cousine in einem Reihenhaus wohnte), Völpel, der Tölpel (was, wie sie fand, ein schönes deutsches Wort war, wie auch Schniepel oder Geisel), und Redzinski, der Freund von Kaminski (wie ihr Nachbar
in der Friedrichstraße, der zur gleichen Zeit wie sie aus der Türkei aus Polen gekommen war).« Sie unterhielten sich oft über die Tücken der deutschen Sprache, vor allem die komplizierten Artikel und die sinnlosen Präpositionen. Dabei hat ihr Nachbar sogar ein polnisches Abitur, während sie gerade mal lesen und schreiben gelernt hat. Welche Schande, sie hat ihre Kinder nicht im Griff. Als sie am Nachmittag kurz aus dem Gemüseladen nach Hause gefahren war, lag da in der Küche ein fremdes Telefon. Aus Neugier wählte sie die letzte Nummer, und am anderen Ende war der Oberarzt Dr. Maschmeyer von der Intensivstation vom Urban, dem sie heute Morgen noch beim Putzen begegnet war. Sie legte, aus Verwirrung und ohne ein Wort zu sagen, sofort wieder auf. Mehr als eine Stunde lief sie in der Wohnung auf und ab und redete laut mit dem Fernsehturm. Hatte ihre Tochter ein Verhältnis mit ihrem Oberarzt? Aber wie sollte sie Maschmeyer kennengelernt haben? Emine kam sie nie besuchen im Urban. Der Oberarzt war verheiratet. Schöne Frau, zwei Kinder, was wollte der mit ihrer Tochter? Aso wünschte sich einen guten Mann für sie, und es musste auch nicht unbedingt ein Kurde sein und schon gar kein Türke, aber ein deutscher Oberarzt, zwanzig Jahre älter, das war, selbst wenn er nicht verheiratet wäre, dann doch nicht das Richtige. Und deswegen ist Aso hier, sie will ihre Tochter zur Rede stellen. Und dazu muss sie zum Oranienplatz, denn neben dem Telefon hat ein Zettel gelegen, dass Emine dort um 20 Uhr eine Verabredung hat, und Aso hofft, dass es nicht eine mit dem Oberarzt ist. Sie würde ihm mit einem Messer ins Herz stechen, bei der Ehre ihres toten Mannes Ismet.
    Ihr Weg zum Oranienplatz führt sie am Fotoatelier Selçuk vorbei. Sie duckt sich immer, wenn sie daran entlanggeht. Eine entfernte Cousine hat vor ein paar Jahren in Kreuzberg geheiratet, und nach der Trauung ist die ganze Hochzeitsgesellschaft mit großem Getöse durch die Oranienstraße zum Fototermin gefahren. Aber anstatt dass der Bräutigam die Braut aus dem Auto hob und über die drei Stufen in das Fotoatelier trug, musste die Braut laufen, und die teure weiße Seidenschleppe schleifte über
den schmutzigen Gehweg der Oranienstraße und nahm einen Haufen weiche Hundekacke mit. Was zu Tränen führte, weil die Braut danach

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