Walpurgistag
nicht meine Fesseln durchgeschnitten, ich wäre erstickt. Beim Sprung über das Feuer habe ich mir Verbrennungen dritten Grades zugezogen. Ich musste noch in der Nacht zum Notarzt. Das war so ein Alter, so ein Viehdoktor. Er zog eine Tetanusspritze auf und fragte mich, woher ich die Verbrennungen hätte. Ich sagte es ihm, und er rief: ›Aber gute Frau, heute werden doch keine Hexen mehr verbrannt.‹« – »Ist was zurückgeblieben?«, fragt eine Frau aus der dritten Reihe. Katrin Manzke zeigt die Narben an ihrem Arm. »Mann, die hätt ich verklagt«, sagt Viola Karstädt. »Schön viel Schmerzensgeld.« – »Heute würde ich das mit Vergnügen tun, damals war ich einfach nur dumm.«
Zwei Mädchen kommen den Stadionhügel heruntergerannt. Jedes einen Stubenbesen zwischen den Beinen, springen sie über das Feuer. Sie kreischen, Funken stieben, und Klara duckt sich hinter Pauls Rücken. »Die Hexen zu dem Brocken ziehn,/Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün. /Dort sammelt sich der große Hauf, /Herr Urian sitzt oben auf. /So geht es über Stein und Stock, /Es f-t die Hexe, es st-t der Bock.« – »Sugar«, ruft Heike, »was machst du denn hier, und seit wann interessierst du dich für Goethe?« – »Goethe?«, fragt Sugar. »Kenn ich nicht, hatten wir nicht in der Schule.« Sie grinst dabei, und Heike grinst zurück, und Cakes stimmt an: »Du musst verstehn! /Aus Eins mach Zehn, /Und Zwei lass gehen, Und Drei mach gleich, so bist du reich. /Verlier die Vier! /Aus Fünf und Sechs, /So sagt die Hex, /Mach Sieben und Acht, So ist’s vollbracht: /Und Neun ist Eins, /Und Zehn ist keins, /Das ist das Hexen-Einmaleins!« Die letzten Zeilen brüllen alle am Feuer laut mit.
Nur Heike wendet sich ab, tritt aus dem Lichtkreis und kotzt ins Gras. » Was hast du?«, fragt Viola. »Nichts, das ist der Stress.« –
»Ach, komm, was ist los? Heute Nachmittag warst du doch noch so fröhlich.« – »Manchmal möchte ich den Beruf wechseln und ins Altenheim gehen. Und dann bin ich wieder überrascht, wenn meine Schülerinnen den Faust rezitieren, obwohl sie nächste Woche verheiratet werden.« – »Wie? Beide?« – »Nein, die Kleinere, Zarte, das ist meine Schülerin, Hatice, von allen nur Sugar genannt.« – »Und du kannst nichts dagegen machen?« – »Wie denn? Die fährt mal kurz nach Schweden, und ich kann froh sein, wenn sie hinterher wieder in die Schule kommt und nicht gleich schwanger ist.« – »Ich dachte immer, Sonderschullehrerin ist easy, kleine Klassen, süße, anhängliche Kinder.« Heike rollt mit den Augen. »Manchmal erzählst du echt Schwachsinn. Nur ein Beispiel, ja? Eins und dann höre ich auf. Thema beschimpfen: ›Ich ficke deine Mutter.‹ Sehr beliebt auf dem Schulhof. Ich hin zu dem, der schreit. ›Wenn du sagst, du fickst Pasquals Mutter, dann ist das eine Aussage. Also rufe ich jetzt Pasquals Mutter an, dann kommt sie her, und dann sagst du das noch mal in ihrer Gegenwart.‹ – ›Nee‹, sagt der Zehnjährige. ›Will ich nicht.‹ – ›Naja, machst du das denn? Ficken ist eine Tätigkeit. Übst du diese Tätigkeit mit Pasquals Mutter aus?‹ – ›Nein.‹ – ›Na, warum behauptest du das dann?‹ Das ist nur eine Minute auf dem Schulhof. Der Schultag hat aber vierhundert solcher Minuten. Naja, egal, lass uns von was anderem reden. Sag mal, da vorne, ist das nicht Ilona Kaufmann?« – »Ja«, sagt Viola, »die verfolgt mich schon den halben Tag.« – »Na, dann werden wir sie bei Gelegenheit mal ansprechen.« – »Ich weiß nicht, ich hab irgendwie ein schlechtes Gewissen.« – »Wieso das denn, weil sie sich getraut hat abzuhauen und du dageblieben bist? Wir waren erwachsen. Jeder musste sich entscheiden, ob er bleibt oder geht. Der Westen kam eben eher zu mir als ich zu ihm. Aber deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben? Das ist doch Quatsch. Hier gefällt’s mir ja auch nicht besonders, und Ilona sieht auch nicht so aus, als hätte sie die beste aller Welten vorgefunden.« Sugar und Cakes fliegen erneut ein: »Der Puder ist so wie der Rock/Für alt’ und graue Weibchen, /Drum sitz ich nackt auf meinem Bock/Und zeig ein
derbes Leibchen.« Heike muss schon wieder brechen, und Sugar auf ihrem Besen flüstert ihr zu: »Sie sind doch schwanger.« – »Ich bin viel zu alt.« – »Na dann ist es bestimmt Krebs.« Und weg ist sie. Auf dem Besen.
»Könntest du mir einen Gefallen tun?«, flüstert Klara Paul ins Ohr. »Kannst du mir eine Website gestalten?« – »Was für eine
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