Walpurgistag
Eigentlich ist er im Moment noch überflüssig, es reicht, wenn er in zwei Stunden kommt, aber ich habe das Bedürfnis, einen Moment allein zu sein mit Papa. Diese Treffen mit ihm sind wie die Kaffeetafeln
bei meinen Großeltern am Sonntagnachmittag, damals, als Papa noch die Körpertemperatur von siebenunddreißig Grad Celsius hatte. Papa spricht gar nicht, und ich sag auch nicht viel. Das ist überhaupt das Beste an meinen Lebensumständen, dass ich nicht viel zu sagen brauche.
Ich warte, bis die Bunkertür ins Schloss fällt, dann öffne ich den Deckel. Papa liegt in seiner Löffelchenstellung. Fehlt eigentlich nur das Daumenlutschen. Ganz friedlich. Ich weiß nicht, wie es ihm gelingt, sich seit mehr als zehn Jahren in diesem Zustand zu halten. Er hat schon immer einen schrecklichen Dickkopf gehabt, und nur an dunklen Tagen, wenn im Bunker der Strom ausfällt, weil Liebig oben seine Rechnung nicht bezahlt hat oder ich vor Polizeistreifen ausweichen muss, hasse ich ihn dafür.
Am 7. Februar ist Papa fünfundsechzig Jahre alt geworden. Er sieht aus wie Mitte fünfzig, denn sein Alterungsprozess ist extrem verlangsamt. Er ist jetzt seit mehr als zehn Jahre eingefroren, wenn er sich weiterhin so gut hält, werden wir in spätestens sechzehn Jahren aussehen wie Gleichaltrige. Und in weiteren zehn Jahren gehe ich als seine Mutter durch, wie ein Kind benimmt er sich ja schon lange genug.
An jedem Geburtstag werfe ich einen Blumenstrauß in seine Truhe, der weit über den Tag hinaus seine Farbe und Form hält. Papa konserviert ihn einfach mit seinem Körper, wie die Tiefkühlkost, von der wir uns hier unten seit Jahren ernähren. Zuerst habe ich mich ein bisschen geziert, als Liebig eines Tages kurz vor Weihnachten vor fünf Jahren mit einer Gans kam und sie in die Kühltruhe legte, aber Alex hat gesagt: »Wenn, wie du behauptest, dein Vater noch lebt, kannst du ihn ruhig in seinem Beruf als Kälteingenieur beschäftigen. Es dürfte ihm eine Ehre sein, unsere Gans ordnungsgemäß gefroren und somit frisch zu halten.« Und wirklich, bis auf einen Tag, an dem Papa schwächelte und die Temperatur in der Truhe anstieg, haben wir uns immer darauf verlassen können, dass das Kühlgut frisch bleibt.
Den Bunker hatte ich schon in den achtziger Jahren entdeckt, als ich als Schichtarbeiterin in der Eiskremproduktion des Backwarenkombinates
arbeitete. In den Pausen sah ich mich gern auf dem weitläufigen Gelände um und stieß dabei eines Tages im Keller auf einen Betonquader, der zum Nachbargrundstück hinüberragte, wo sich das SED-Parteiarchiv befand. Ich fragte mich damals, wozu sie dicke Betonwände in einer Bäckerei brauchten. Sicher nicht für ein Mehllager. Ich ahnte, dass der Ort ein Geheimnis barg, nach dem man besser nicht fragte, mir wäre aber im Traum nicht eingefallen, dass in diesem Gebäude, in dessen oberirdischen vier Etagen die Arbeiter im Dreischichtensystem Brot buken, im Keller ein voll eingerichteter Atomschutzbunker der Regierung auf den Ernstfall wartete.
Aus Gründen der Tarnung, nehme ich an, war der Eingang zum Bunker nicht in dem Parteigebäude, sondern auf dem Gelände der Backwarenfabrik. Als ich 1993 beschloss, die Produktion von Moskauer Eis wieder aufzunehmen, mietete ich bei dem neuen Besitzer der Fabrik den Gebäudeflügel, in dem noch die alten Eismaschinen standen, an. Ich bekam den Teil des Kellers dazu, an dessen Ende die Luftschutztür war, die, so sagte der Gebäudemanager beiläufig, schon zum Nachbargrundstück gehöre. »Sie wissen ja, das Haus an der Ecke Torstraße, das man den Roten weggenommen hat. Jetzt streiten sich die Juden, wer von ihnen es wiederkriegt. Das kann dauern. Keine Ahnung, was dahinter ist, wahrscheinlich nur der Notausgang für Funktionäre.
Daran erinnerte ich mich, als ich im Mai 1995 mit Papa im Schlepptau nach einem Versteck suchte. Zehn Meter unter der Erde, hinter der Luftschutztür, verbarg sich eine voll eingerichtete Wohnung. Es gab Schrankwände aus Sperrholz, bezogene Betten und drei riesige tote rote Telefone. Auch ein Videorekorder aus japanischer Produktion stand in der Ecke. In der Küche stapelten sich Konserven, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Das Wichtigste aber war eine riesengroße Kühltruhe, wie gemacht für Papa. Wir zogen ein.
Aki lebte zu der Zeit schon drei Jahre mit seiner Familie über dem Tordurchgang an der Saarbrücker Straße. Die Treuhand hatte das Bürogebäude an das Sozialamt vermietet. Die meisten Bewohner
waren
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