Walpurgistag
habe mir über die Jahre hinweg angewöhnt, die Frisuren nach den Passbildern der geklauten Ausweise auszuwählen, was meine Kleidung anbelangt aber immer Mittelmaß zu sein. Inzwischen sehe ich aus wie meine Mutter, als sie Vater und mich verließ. Da war sie neununddreißig. Bald bin ich in dem Alter, in dem Polizisten einen zu übersehen pflegen. Man ist statistisch keine Gefahr mehr für sie. Mittelalte Frauen töten höchstens ihre Ehemänner, bleiben dann aber neben der Leiche sitzen, sodass man sie praktischerweise gleich verhaften kann.
Ich habe viel lernen müssen in den Jahren im Untergrund. Der wichtigste Punkt: Der Illegale muss jegliche Grenzübertretung vermeiden. Meint: unter keinen Umständen auffallen und nie bei Rot über die Straße gehen, wenn es nicht mehr als die Hälfte der am Straßenrand Wartenden macht. Ich habe immer Licht am Fahrrad, ich fahre nie auf dem Fußweg und niemals ohne Fahrschein U-Bahn. Ich besitze keine Kreditkarten und habe mein Konto seit meinem Untertauchen nicht mehr benutzt. An Überziehungszinsen muss sich ein nettes Sümmchen angesammelt haben.
Schwierig auch, dass man heute viel mehr Spuren hinterlässt als noch vor zwanzig Jahren. Man geht in einen Laden und lässt
sich an der Kasse registrieren, man wird über das Handy geortet, man hinterlässt seine Spuren im Internet, in den Computern der Bank, bei der Bahn und in jedem Krankenhaus.
Deshalb herrscht in der Illegalität Handyverbot. In meinem Bunker habe ich keinen Empfang, ich kann mir wegen der Vorbesitzerin, der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, sicher sein, dass er absolut abhörsicher ist. Falls ich doch einmal telefonieren muss, nehme ich eine öffentliche Telefonzelle. Hingegen surfe ich gerne im Internet und chatte mit wildfremden Personen. Man kann das in den Computerabteilungen von Kaufhäusern tun, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen.
Manchmal habe ich Sex mit einer dieser Chatbekanntschaften in einem der Hotels in der Kantstraße. Nicht zu häufig und nicht immer im selben, um nicht für eine Gewerbliche gehalten zu werden. Seit Kurzem vögele ich mit einem Angestellten der GASAG, sehr bürgerlich, der würde mich auf der Straße glatt übersehen und hinterher so tun, als sei es Teil eines Spiels gewesen. Aber er fängt schon an, mich zu langweilen. Und er stellt mir zu viele Fragen, früher oder später wird er mir heimlich folgen. So weit darf es nicht kommen. Verlieben ist verboten. Verlieben bringt Illegale immer in Gefahr. Kinderkriegen erst recht. Ich hätte gerne Kinder gehabt. Manchmal heule ich deswegen und schimpfe mich hinterher eine sentimentale Kuh.
Die Zeit verrinnt, mein Vater schrumpft, ich bekomme Falten.
Wichtig ist es, auf die Gesundheit zu achten. Viel Bewegung, aber keinen Extremsport, dreimal am Tag die Zähne putzen und auf das Zahnfleisch achten. Bei Zahnschmerzen nur in die Notaufnahme, um eine Gebissanalyse zu verhindern, und auch da am besten in Kreuzberg oder Nordneukölln, wo sie an Unordnung gewöhnt sind. Und immer die Rechnung bar bezahlen. Was den Rest meines Körpers und seine Wehwehchen angeht, so genieße ich das Privileg, eine Hausärztin zu haben, hundert Meter die Allee hinauf. Sie kommt aus der ostdeutschen Bürgerbewegung. Aki hat mir mal beiläufig erzählt, dass sie die Einzige sei, die zu Asylbewerbern freundlich ist. Also habe ich mich eines Tages, als
die Schmerzen im Kreuz unerträglich wurden, in das Wartezimmer gesetzt, und als ich dran war, gleich gesagt, was los ist. Die Ärztin verbat sich Einzelheiten, so hat sie das schon zu Diktaturzeiten gehandhabt, besser ist, nicht alles zu wissen. Wenn ich Hilfe brauche, kann ich sie in der Nacht anrufen, und dann treffen wir uns in ihrer Praxis. Mehr als Angina, Kreuzschmerzen wegen meiner Skoliose und ein leichtes Bronchialasthma habe ich zum Glück noch nicht gehabt. Sie meint, ich solle mit dem Rauchen aufhören, aber ich sage ihr jedes Mal, dass jeder Mensch etwas brauche, auf das er sich freuen könne. Und bei mir sei das eben das Rauchen. Auch wenn jede Kippe eine Spur sein kann.
Zum Glück stimmt, was schon mein Großvater sagte: Ich passe auf jeden Steckbrief. Damals fand ich das beleidigend, heute ist es mein Vorteil – ich falle nicht auf, der Blick bleibt nicht an mir hängen, ich bin ein Chamäleon. Ich habe kurze blonde Haare und trage, wenn ich rausgehe, blau getönte Haftschalen oder eine Brille mit dickem Fensterglas. Denn die Augen sind meine Achillesferse – an den
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