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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Freitag fraß sich dann der Bohrer durch die Wand meiner Sofaecke. Zum Glück war just in dem Moment Feierabend. Ich hielt mein Ohr an das Loch und belauschte die Arbeiter. Sie verabschiedeten sich bis nächsten Donnerstag, also übermorgen. Montag und heute wollten sie »in den Mai saufen, bis der Arzt kommt«.
    Ich habe also nur noch wenig Zeit, um zu verschwinden und alle Spuren zu verwischen. Bei meiner letzten Flucht musste ich die Kühltruhe in der Wohnung lassen. Die Kripo hat danach bestimmt jedes Fitzelchen unserer Existenz gesichert und archiviert bis in alle Ewigkeit. In den vergangenen Jahren ist die Spurensicherung perfektioniert worden. Noch ein Haar von Papa oder ein Fingerabdruck von mir, und sie sind uns wieder auf der Spur. Und dass ich mich in den Jahren nach meiner Flucht nur fünfhundert Meter vom Ort der vermeintlichen Tat entfernt habe und der Polizei die ganze Zeit auf der Nase herumgetanzt bin, kann sie mir nur übel nehmen.
    Letzte Woche hat mich Alex mit dem Mietvertrag für eine Dreiraumwohnung in einem Hochhaus am S-Bahnhof Frankfurter Allee überrascht. Er weiß, dass ich kaum auf legalem Wege irgendwo unterschlüpfen kann, aber auch, dass ich nicht will, dass er sich um meine Angelegenheiten kümmert. Also erzählte er beiläufig, dass es für ihn Zeit sei, Sozialhilfe zu beantragen, und dafür brauche er eine Meldeadresse. Dabei hielt er mir den Mietvertrag für die Wohnung unter die Nase und sagte, wohnen wolle er da selbstverständlich nicht, nur der Hauptmieter sein.
Der Mietvertrag gelte allerdings nur für ein Jahr, denn das Haus stehe auf Abriss. » Alles anonym, keiner will mehr drin wohnen. Toller Ausblick und viel Platz für die Truhe. Wir müssen sie nur unbemerkt dorthin kriegen.«
    Ich fing an zu packen.
    Über Alex’ Herkunft weiß ich wenig, und im Grunde will ich auch gar nicht so genau wissen, was er zu Mauerzeiten gemacht hat. Ich nehme an, dass er mal Geheimdienstoffizier war, so ein richtig dicker Fisch, und dass er in dieser Funktion hier an einem der roten Telefone saß. Er kannte sich jedenfalls bestens aus, als er das erste Mal im Bunker auftauchte. Ich hatte ihn nicht eingeladen, wie ich nie jemanden einlud. Alex spazierte einfach durch die Tür herein, er hatte sogar noch einen Schlüssel. Ich habe ihn mal nach seinem Geburtsnamen gefragt, aber er ist ihm nicht mehr eingefallen.
    Irgendwann hat er angedeutet, dass er eine gewisse Zeit als Romeo beschäftigt war. Das waren die Stasitypen, die in den Westen geschickt wurden, um sexuell ausgehungerte Sekretärinnen der NATO oder der Bundesregierung zu umgarnen und ihnen die Ehe zu versprechen. Wie Alex es geschafft haben soll, ihnen mit Charme und Schönheit Staatsgeheimnisse zu entlocken, ist mir ein Rätsel. Jetzt sieht er aus wie Robinson Crusoe, dem Freitag abhandengekommen ist.
    Vor fünf Jahren hätte ich noch gemacht, dass ich wegkomme, inzwischen gucke ich mir die Leute genauer an. Und Alex ist ein Ausgestiegener, der mal hat fallen lassen, dass er noch zu Mauerzeiten in Haft gesessen hat, und die sind nicht fein mit ihren Abtrünnigen umgegangen. Darüber spricht er nur in Andeutungen, und da er nicht trinkt, habe ich die Geschichten auch noch nicht aus ihm herausbekommen. Vielleicht stammen die breite Narbe auf der Stirn und die kleinen kreisrunden Flecken auf der Brust, die an Pockenimpfungen erinnern, aus dieser Zeit.
    Ich nehme meinen Schlafsack und lege mich auf den Deckel der Kühltruhe. Das mache ich seit Jahren so, wenn ich Zeit zum Nachdenken brauche. Vaters Ruhe überträgt sich dann auf mich,
obwohl er mir mit seiner Unselbstständigkeit auf den Geist geht. In schweren Krisenzeiten habe ich sogar überlegt, ihn in einem Container nach Amerika zu verschiffen, adressiert an das Kryologische Institut Alcor in Arizona. Ich könnte dann irgendwann im National Geographic nachlesen, was aus ihm geworden ist. Aber nach dem II. September 2001 nahm ich davon Abstand, die amerikanischen Behörden hätten ihn vielleicht für eine besonders perfide Art eines Selbstmordattentäters gehalten, der sich einfriert, um dann als Eisbombe Städte in Schutt und Asche zu legen.
    Es ist ohnehin alles komplizierter geworden seit diesem Tag. Viele Illegale verschwinden, was meistens heißt, dass sie durch die enger gewordenen Maschen nicht mehr entkommen und in Abschiebehaft landen. Von Akis Familie ist nur noch er übrig geblieben. Glücklicherweise sehe ich nicht besonders arabisch aus und habe keinen Akzent. Ich

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