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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Schlachthof die Schwundverluste beim Gefrieren von Schweinefleisch ermittelt hat. Seitdem weiß die Welt, dass Gefrierfleisch nach einer Lagerzeit von sechs bis acht Monaten an Gewicht verliert. Schonende Gefrierverfahren lassen den Masseverlust geringer ausfallen, aber besonders schonend hat Vater sich nicht eingefroren. Er braucht noch nicht mal Strom dafür, er ist sein eigenes Kraftwerk. Vor drei Monaten musste ich mich allerdings fragen, ob sein Wille zum Gefrieren nicht langsam nachlässt. In der Truhe herrschten nur fünf Grad minus, viel zu
wenig, um die Qualität des Gefrierguts zu halten, um mal mit Vaters Worten zu sprechen. Ich habe dann, zum Leidwesen von Aki, der auch das Haltbarkeitsdatum von Lebensmitteln nicht so genau nimmt, die Thunfischpizza, die auf Vaters Schenkeln lag, vorsichtshalber weggeworfen und darüber nachgedacht, ob ich die Truhe nicht doch an das Stromnetz anschließen sollte. Papa hat es sich dann aber noch einmal anders überlegt, und die Temperatur sank innerhalb von drei Stunden auf die vorschriftsmäßigen minus achtzehn Grad.
    Alex wusste, als er damals hier reinspazierte, sofort, woran er war, ohne überhaupt die Kühltruhe geöffnet zu haben. Er muss irgendwie durch die Truhenwand hindurchgesehen haben. »Aha«, hat er nur gesagt. »Die Schneekönigin hat ein Problem.« – »Welche Schneekönigin?«, habe ich gefragt, während alle Alarmglocken in meinem Kopf läuteten. Wer war dieser Typ?
    »Das ist mein Keller«, hat Alex gesagt und mich angefunkelt. Da er ein aufmerksamer Zeitungleser ist, mindestens zehn am Tag, war ihm mein Fall wohlbekannt. Es hat damals viel in den Boulevardzeitungen gestanden. Er verfolge ein paar dieser Fälle, nur für sich selbst, um in Übung zu bleiben, wie er sagte. Es verschaffe ihm eine gewisse Befriedigung, klüger zu sein als die Kriminalpolizei.
    Wir freundeten uns an. Wenn man überhaupt von Freundschaft sprechen kann, wenn einer den anderen durchschaut und nicht über sich selbst spricht.
    Und jetzt steht Alex in der Tür, mit schuldbewusstem Blick und seinem schweren Rucksack auf dem Rücken, in den keiner je einen Blick hineinwerfen durfte. »Ich musste einer Frau helfen«, sagt er, »und ich hab auch nicht viel Zeit. Wo ist der Krempel? « – » Wo ist die Frau?«, frage ich. »In den Büschen vor ’m Fernsehturm.« – ? »Klingt ja nicht gerade nach gehobenem Mittelstand. « – »Ich bin eben auf solche wie dich abonniert.« – »Sieht sie mir ähnlich? Ich frag nur, weil ich einen neuen Ausweis brauche. « – » Wer weiß, ob sie Papiere hat. Wo ist Liebig?« Ich schicke Aki noch mal die Fassade hoch. Es geht schneller und fällt wegen
des toten Winkels nicht auf, wenn Aki durch den Lichtschacht zwischen den beiden Nachbargebäuden über ein Seil zu Liebig in den vierten Stock klettert. Alex und ich tragen in der Zeit die Kartons und das Sofa in die Tiefgarage. Zum Glück müssen wir dazu nicht über den Hof.
    Ich habe im wahrsten Sinne des Wortes nicht viel mehr als Siebensachen. Aki ist nach fünf Minuten wieder da, und da schlendert auch schon Liebig von der Straße aus in die Tiefgarage, ein Lied auf den Lippen. »Hat dich jemand beobachtet?« – »Ja, klar, drei Streifenwagen der Polizei«, sagt Liebig, »die warten draußen. « Er wirft mir den Autoschlüssel zu und singt dann weiter: »Unsterbliche Opfer / Ihr sanket dahin.« Ich schließe das Auto auf, und Aki befüllt es in Windeseile. Zuletzt schleppt er noch ganz allein die Truhe herbei. Er hält sie wie eine Trophäe. »Kannst du nicht die rumänische Nationalhymne?«, frage ich Liebig, aber der sagt, er habe noch nie einen rumänischen Staatsbürger in die Erde georgelt, da müsse er passen.
    Um 5.07 Uhr verlassen wir die Tiefgarage. Draußen ist es nass. Ich schaue mich nicht noch einmal um. Das bringt nur Unglück. Liebig barmt, dass er nun so weit laufen müsse, um mich zu besuchen. »Kannst ja mit einziehen, sind drei Räume. Alex hat jetzt auch endlich eine Meldeadresse und kehrt zurück ins zivile Leben.« – »Ziviles Leben nennst du das Hausen in der Platte? Na, danke auch. Nie im Leben verlasse ich meinen Prenzlauer Berg«, sagt Liebig, »das habe ich Onkel Paul auf dem Sterbebett versprochen. « – »Quatsch, Onkel Paul«, erwidere ich, »du bist einfach nur so ein Dorfschrat, der schon den nächsten Ort als grässlich gefährliche Fremde empfindet.« Alex hat die Kapuze tief in die Stirn gezogen, damit ihn keiner erkennt. Er fährt einen Umweg am

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