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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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ist das überflüssig, denn in den Nebenstraßen ist so gut wie kein Auto unterwegs, das mit ihren Richtungsweisungen etwas anfangen könnte. Aber es machte ihr Spaß. Überhaupt gefällt ihr das Fahren an der Frühlingsluft. Nur einmal hat sie wegen des Regens die Spur verloren und ist gegen ein am Straßenrand geparktes Auto geknallt. Das rechte Rücklicht des VWs zersplitterte, und sie musste sich, so schnell es ging, aus dem Staub machen. Seitdem eiert das Vorderrad ein wenig, und sie kann nicht mehr freihändig fahren, ohne Gefahr zu laufen zu stürzen.
    Sie ist viel zu weit nach Osten geraten. Längst hätte sie auf der Karl-Marx-Allee sein müssen, um an der Warschauer nach Kreuzberg abzubiegen. Egal, denkt sie sich, irgendwann wird sie an der Ringbahn ankommen und sich an ihr entlang nach Kreuzberg führen lassen. Am Ende der Mühsamstraße weichen die Häuser auf der anderen Straßenseite einer großen freien Fläche, die am Horizont von Plattenbauten begrenzt wird. Dieser Ort kommt ihr bekannt vor: das Gelände des Schlachthofes. Vergangenen Herbst war sie mit dem Deutsch-Leistungskurs hier, weil die Lehrerin der Meinung war, es könnte nicht schaden, mal den Ort aufzusuchen, wo Alfred Döblin seinen Franz Biberkopf zu den Schweinen geschickt hat. Abgesehen davon, dass der Roman kein Abiturstoff war, interessierten sich die meisten aus dem Kurs nicht für Berlins Geschichte. Candy schon, aber sie hätte es nie zugegeben. Man hat aber kaum noch etwas vom Schlachthof gesehen, das meiste war abgerissen, und schließlich hatten sie sich unter das Gerippe einer Auktionshalle gestellt und abwechselnd das Schlachthofkapitel aus Berlin Alexanderplatz laut vorgelesen.
    Candy stellt das Fahrrad an eine Laterne und steigt die Treppe zur Fußgängerbrücke hoch, die über das Schlachthofgelände zur
Ringbahn führt. Die Brücke ist so lang, dass Candy in der Dämmerung ihr Ende nicht sehen kann. Unter ihr glaubt sie die Seelen der toten Schweine zu hören. Candy isst kein Schweinefleisch. Das liegt an ihrer türkischen Herkunft. Sie hat allerdings vergessen, warum die Religion das so vorschreibt, vielleicht hat sie es auch nie gewusst, man ist in ihrer Familie dem Religiösen nicht so zugetan. In diesem Schlachthof sollen aber auch Schafe und Hammel getötet worden sein. Hat jedenfalls die Deutschlehrerin behauptet.
    Als Candy wieder auf dem Fahrrad sitzt, kreuzt ein Marder ihren Weg. Sie umrundet den Platz vor dem Schlachthof halb. Als sie nach links abbiegt, sind hinter der Plane eines Miet-LKWs Stimmen zu hören. Was macht man morgens um kurz nach fünf auf der Pritsche eines LKWs? Nach Sex, wie Candy beim Näherkommen zuerst vermutet, hört es sich dann doch nicht an. Eher nach Streit. Einer ist gerade laut fluchend abgesprungen. Er entfernt sich mit wütend ausgreifenden, schnellen Schritten, während die anderen weiter streiten. Eine Frauenstimme hört Candy heraus, eine männliche Stimme mit Akzent und eine andere, die im Falsett spricht. Dann singt das Falsett kurz, bis die Frauenstimme es unterbricht: »Du spinnst wohl, Liebig! Willst du uns die Polizei auf den Hals hetzen?« Der Gesang verstummt. Ave Maria setzt sich in Candys Kopf fest. Ave Maria , das hat die alte Nachbarin in der Reichenberger immer gesungen, mit ganz hoher Stimme.
    An der Ecke Rigaer Straße hat Candy den Abgesprungenen fast eingeholt. Der Mann hat einen altmodischen langen Knotenstock bei sich, den er offenbar nicht nur zur Zierde mit sich führt, denn er humpelt leicht. Der speckige große Rucksack hängt ihm bis unter die Hüfte, rechts und links davon baumeln Rastazöpfe. Ihr Herz klopft plötzlich wild. Der Rastamann haut dreimal mit dem Knotenstock aufs Pflaster und dreht sich dann um. Es ist Alex. Candy hat noch nie bemerkt, dass er so sanfte dunkelbraune Augen hat. »Na, kleine Rumtreiberin«, sagt er. Candy antwortet nicht, sondern tritt in die Pedale. Sie hebt einen Arm zum Gruß, ohne sich noch mal umzusehen, schreit: »Ciao, Alex, man sieht
sich«, pest in Richtung Frankfurter Allee, rast eine der Nebenstraßen hinunter, die bald an einer Mauer endet. Keine drei Minuten später ist sie auf der Warschauer Brücke. Kann es sein, dass das eben wie Flucht aussah? Hatte sie Angst, in Alex’ Sack zu landen, wie Sugar vorhin? Und hatte Alex nicht gerufen: »Pass auf, dass du nicht über eine Gartenbank stürzt?«
    Die Blumen hat sie immer noch in der rechten Hand. Ihnen hat der Regen gutgetan. Candy ist inzwischen völlig

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