Walpurgistag
dem Türschloss und hinterlässt einen unschönen Kratzer. Trepte sieht noch, wie die Nachbarin telefoniert und ihn dabei nicht aus den Augen lässt.
Schon an der übernächsten Ecke wird er von zwei blau blinkenden Fahrzeugen eingekeilt, die ihn zum Anhalten zwingen.
»Na«, sagt der Polizist, der als Erster aussteigt, »da ist wohl ein Alkoholtest fällig.« Der zweite Polizist bringt dienstbeflissen das Testgerät. »Ehe wir bestätigt bekommen, was wir ohnehin schon wissen, noch eine Frage: Haben Sie einen Führerschein?«, fragt der erste Polizist. Micha Trepte antwortet nicht. »Nicht nötig«, sagt der zweite Polizist, hält ein Lesegerät vor Michas Augen und scannt blitzschnell die Iris. Auf dem Computerbildschirm scrollen seine Daten ab.
Micha Trepte besitzt einen Führerschein. Ausgestellt am II. September 1984 in Westberlin. Fahrschule am Stuttgarter Platz.
Er muss sein Fahrrad an der nächsten Laterne anschließen und in das Polizeiauto einsteigen. Trunkenheit am Lenker und Belügen der Staatsmacht, das reicht für eine Festsetzung.
Im Polizeiauto wird sein Kopf an Elektroden angeschlossen. Sein Gehirn lässt sich nicht davon abhalten, über die Misshandlung einer bestimmten Person mit Koffer nachzudenken: Er würde sie am ganzen Körper mit heißen Elektroden quälen, und der Polizeicomputer spuckt auch sogleich den Namen der verhassten Person aus. Trepte denkt: Feuer und Flamme für diesen Staat, wie damals im besetzten Haus, und auf dem Computerbildschirm erscheint der Paragraph, der die vorsätzliche Gefährdung des Staates unter Strafe stellt. »Machen Sie nur so weiter, dann kommt ein hübsches Strafsümmchen zusammen«, sagt der Polizist und grinst. »Bis jetzt wurde jeder, der zu uns ins Polizeiauto steigen musste, zu einer hohen Strafe verurteilt.«
An der nächsten Ecke knallt das Polizeiauto gegen einen Lichtmasten, und Micha Trepte, der nicht angeschnallt ist, fliegt zwischen den beiden Polizisten durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit.
3.12 Uhr
Alex sieht am Fernsehturm zwei Gestalten, die eine dritte mit sich führen
Panoramastraße. Ich glaube, das ist eine gute Adresse.
Ich bette meinen Kopf auf drei Lagen Pappkarton und starre in den bedeckten Himmel. Ob wohl Sugar, Cakes und Candy nach Hause gegangen sind? Im Moment regnet es nicht.
In der Nacht ist es unter dem Fernsehturm immer sehr still. Da ist die Weltstadt im Tiefschlaf. Die Straßenbahn verkehrt regulär nur bis 23.59 Uhr. Die erste am Morgen ist nicht vor 5.46 Uhr zu erwarten. Ihr leises Knackgeräusch in den Achsen, wenn sie an meinem Schlafplatz vorbeischleicht, möchte ich in der Sekunde meines Todes hören. Leider machen die neuen Bahnen keine charakteristischen Geräusche mehr. Ich muss mich also ranhalten mit dem Sterben, ehe die letzte alte Bahn ausgemustert ist.
Der Fernsehturm schließt um Mitternacht. Einmal ist es mir gelungen, auf der Panoramaplattform zu übernachten. Ich konnte mich hinter der Zwischentür des Notausgangs verstecken, bis der letzte der Angestellten gegangen war. Es war schön da oben, aber auch ein bisschen langweilig. Ich lief drei Stunden im Uhrzeigersinn umher, bis mir schwindelig wurde, und überlegte mir dann, ob der Spaß groß genug sein würde, die Lichter in der gesamten Stadt schlagartig ausgehen zu lassen. Mit einer einzigen Handbewegung. Ich ließ es bleiben.
Vor dem Eingang der Bankfiliale hält ein Pkw. Ich kann nicht erkennen, um was für einen Wagen es sich handelt. Ich sehe, wie zwei Gestalten eine dritte vom Rücksitz ziehen, sie rechts und links unterhaken und sich mit ihr im Schlepptau in meine Richtung bewegen. Die Beine der dritten Person schleifen kraftlos wie die einer Marionette hinterher. Der Kopf pendelt so tief herunter, dass die halb langen Haare bis zum Boden hinabreichen. Die Person
macht keine Anstalten, sich zu befreien. Auf ihrem Rücken hängt schlaff ein Rucksack. Die drei sind jetzt an der Rabatte angekommen.
Die beiden Gestalten lassen die leblose Person dann fallen. Ich drücke mich tiefer in die Zweige und schrecke dabei eine Ratte auf. Die zwei schauen in meine Richtung, ohne mich zu entdecken. Es ist wieder still. Ich höre meinen Atem. Sie ziehen die Person noch ein wenig tiefer in die Büsche, und der eine gibt ihrem rechten Bein, das wie abgeschnitten auf dem Rasen liegt, einen leichten Tritt. Dann verschwinden sie.
Ich versuche, mir ihr Äußeres einzuprägen. Nicht, dass ich sie anzeigen will. Es ist mehr eine Art
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