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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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wandert, bin ich vorsichtig. Aber Alex steht auch nicht unter dem Verdacht, seinen Vater ermordet und entsorgt zu haben. Die Sachen, die Alex macht, sind vielleicht nicht statthaft, aber strafbar sind sie nicht. Er wäscht sich selten, und er hat Rastalocken, obwohl er wahrscheinlich auf die sechzig zugeht. Einmal hat er mir gesagt, dass er das unstete Leben ohne festen Wohnsitz schon aus dem Grund liebt, weil er sich die Füße vor dem Zubettgehen nicht waschen muss. Das habe ihm die ganze Kindheit verdorben. »Stell dir vor, du bist schon im warmen Bett – es war ja immer kalt nach dem Krieg -, und dann wird dir erst die Bettdecke mit einem Ruck weggezogen, dann
schleift man dich an den Ohren über den kalten Flur in die Küche, wo deine Mutter deine Füße in noch kälteres Wasser stukt.«
    Meinetwegen soll Alex vor sich hin stinken, aber er soll Herrgottnochmal kommen. Vielleicht haben sie ihn verhaftet, und er sitzt in irgendeinem Revier und hat der Polizei erzählt, dass er eine seit Jahren gesuchte Mörderin nebst gefrorener Leiche kenne. Aber das würde Alex nicht einmal unter Drogeneinfluss verraten.
    Die Bunkertür quietscht – ich atme auf. Aber es ist nicht Alex. Aki ist zurück. Liebig habe seine Partie mit Onkel Paul noch nicht beendet, komme dann aber sofort. Onkel Paul ist Liebigs Schachcomputer, der gleichnamige Mensch liegt seit 1968 auf dem Friedhof auf der anderen Straßenseite. Liebig geht ihn manchmal besuchen, um mit ihm zu fachsimpeln, oder auch nur, um ihm sein Herz auszuschütten. Onkel Paul ist sein Lebtag nicht aus Prenzlauer Berg herausgekommen, sieht man mal von der Zwangsverschickung nach Stalingrad ab, aus der er die Leidenschaft für Schach und sowjetische Schachweltmeister mitgebracht und in Ermangelung eigener Kinder an Liebig weitergegeben hat. Weil keiner von uns Schach mit Liebig spielen will, hat er sich mit der Arbeit auf den Friedhöfen einen Schachcomputer zusammengespart, und manchmal vergisst er eben die Zeit.
    Aki ist schon wieder dabei, aus Langeweile die Truhe zu stemmen. Ich rufe: »Stopp! Absetzen!« Ich habe die Zeitungsausschnitte vergessen. Sie sind mit Magneten an der Rückseite der Truhe festgepinnt. Alex bringt mir manchmal die neuesten Geschichten aus der Tiefkühlhölle mit, die er aus den Vermischtes-und Panorama-Seiten der Zeitungen ausreißt. Es sind wunderbare Tragödien dabei, aber mich interessiert vor allem das Strafmaß. Jede neue Geschichte lese ich Vater vor. Vielleicht beruhigt es ihn, dass nicht nur er in so einem Zustand ist, obwohl bei den meisten Meldungen eigentlich klar ist, dass die Leute tot sind. Es ist ja in den vergangenen Jahren Mode geworden, nicht mehr benötigte Menschen, vor allem Säuglinge, in Truhen einzufrieren. Besonders hat es mir die Eismutter angetan. Eine Medea der Kühltruhe! Welche Kälte muss jemand aufbringen, drei neugeborene
Kinder, mit Stoffknebeln erstickt und in Plastetüten verpackt, in der Gemeinschaftskühltruhe unterzubringen, wo sie früher oder später von den Nachbarn gefunden werden müssen?
    Mit großer Leidenschaft, ja, eigentlich Mitleid, erzähle ich Vater immer wieder die Geschichte des armen Clarence Stowers aus dem amerikanischen Wilmington, der dachte, dass in seinem Schokoladeneis ein ganz besonders großes Stückchen Schokolade gelandet sei. Er nahm es in den Mund, um das Eis rundherum abzulutschen. Es stellte sich heraus, dass es der Finger eines dunkelhäutigen Angestellten der örtlichen Eisfabrik war. »Da habt ihr aber Glück gehabt, dass ihr weder genug Schokolade noch dunkelhäutige Arbeiter hattet«, sage ich jedes Mal zu Vater, der das aber nie kommentiert. Gestern hat Liebig mir die Story von dem Drogendealer mitgebracht, der seine an einer Überdosis gestorbene Freundin ein Jahr lang auf Trockeneis bettete und behauptete, nur aus religiösen Gründen habe er sie nicht bestattet.
    Ich löse Blatt für Blatt von der Truhenwand und verstaue alles in einem Karton, den ich Vater zu Füßen lege. Nur keine Spuren hinterlassen.
    Eigentlich braucht Vater gar keine Truhe, denn er friert ja aus eigener Kraft, aber seine Haut ist so empfindlich. Wie feine Pralinen muss sie in einem Kistchen geschützt werden. Ich habe die Truhe vor drei Jahren mit rotem Seidensatin ausgeschlagen. Ich nehme an, dass Papa durch schleichenden Masseverlust beim Gefrieren leichter geworden ist. Jedenfalls wenn man einer Arbeit meines Großvaters Glauben schenken darf, der 1948 im Auftrag der Russen im Berliner

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