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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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durchnässt. Sie lehnt ihr Fahrrad am Geländer an und schaut über das Bahngelände in Richtung Fernsehturm. Gleise über Gleise über Gleise. Die Stelle hat ihr schon immer gefallen, auch wenn die meisten Gleise keinen Sinn mehr ergeben. Nie rangiert ein Zug auf ihnen. Die Nichtbeachtung hat sie stumpf gemacht. Ein hell erleuchteter ICE gleitet fast lautlos unter der Brücke hervor und fährt in Richtung Westen. Niemand sitzt darin. Erst in zweihundert Metern, am Ostbahnhof, beginnt die Zivilisation. Dort ist der östlichste Punkt, wo ICEs abfahren. Candy steht schon im wilden Slawistan. Einsam blinkt die rote Spitze des Fernsehturms, umkränzt von den hellen Leuchten des Bahnhofsgeländes. Auf der anderen Seite der Brücke, Richtung Russland, wird der Himmel langsam hell.
    Candy steigt wieder auf ihr Rad und lässt sich den Berg hinuntertrudeln. Sie möchte nach Hause in die Reichenberger gebeamt werden, auch wenn ihre Eltern hinter der Tür warten. Sie versucht, die Fahrt zu verkürzen, indem sie an andere Sachen denkt als an den Weg, den sie noch vor sich hat. An die unmittelbare Zukunft zum Beispiel. In der Wohnung angekommen, wird sie zuerst den Vater mit ein paar fadenscheinigen Ausreden über ihren Verbleib beruhigen und der Mutter die Blumen in die Hand drücken. Sie wird die nassen Sachen ausziehen, ein Handtuch um den Kopf schlingen und eine Aspirin auflösen. Die Nacht wird kurz sein.
    Candy beschließt, die Abkürzung durch den Görlitzer Park zu nehmen. Hinter der Brücke, dort, wo die Oberbaumstraße einen Rechtsschlenker zum Schlesischen Tor macht, überquert sie die Straße kurz vor einem sich mit hoher Geschwindigkeit nähernden Taxi und fädelt sich in die Falckensteiner ein. Hinter
der Schlesischen Straße fängt Candy aus Übermut an, Schlangenlinien zu fahren. Die Blumen wippen vergnügt. Noch einen Kilometer, dann ist sie zu Hause. Sie merkt jetzt, wie müde sie ist. Morgen wird sie nach der Schule eine Runde um ihren Lieblingsplatz, das Engelbecken, drehen und nachschauen, ob die Rosen im ehemaligen Kanal schon Knospen haben.
    Nur schemenhaft sieht sie noch, wie etwas Dunkles sich nähert und partout nicht ausweichen will. Es knallt dumpf. Die weißen Gladiolen fliegen in hohem Bogen auf den Rasen. (Wo sie kurze Zeit später ein alter Mann, der gerade dabei ist, seine Kreuzberger Promenadenmischung auszuführen, einsammeln wird. Gladiolen im Frühjahr, da wird sich seine Frau freuen.) Geh ich eben morgen nicht zum Engelbecken, denkt Candy im Flug. Dann bedeckt Dunkelheit sie wie ein schwarzer Schleier.

6.02 Uhr
Hosch erwacht vom Piepen der Kontrollüberwachung auf der Intensivstation des Urbankrankenhauses
    Wo ist die Rankestraße? Es will ihm nicht einfallen. Er ist sich sicher, er hat den Namen der Straße schon einmal gehört, er hat auch schon etliche Male ein paar übel aussehende Leute ins Café King gefahren, aber er erinnert sich nicht, welche Kreuzungen er nehmen muss, um dahin zu gelangen. Er hat einen kompletten Stadtplan im Kopf, mit Koordinaten und zugehörigem Straßenverzeichnis. Es gibt die Raabestraße und die Ramler-, die Rathaus- und die Raumer-, aber die Rankestraße ist unauffindbar. Einmal hat er eine Bedienung dort abgeholt, die ein Taxi bestellt hatte. Der King-Chef hatte sie rausgeschmissen, aus irgendeinem Grund, den er, Hosch, auch vergessen hat. Aber was ist diese Art von Alltagsvergesslichkeit gegen den Verlust von Straßen? Er ist Taxifahrer, er muss jede Straße kennen.
    Er hört es unter sich wischen und kann das Geräusch nicht zuordnen. Nach jedem Wisch knarzt es leise. Es klingt ein bisschen wie der Scheibenwischer seines Taxis. Er muss ihn mal endlich austauschen lassen. Es ist wohl auch Zeit nachzusehen, ob der Mercedes überhaupt noch da ist. Jeden Morgen nach dem Aufstehen geht er sofort ans Fenster und schaut, ob das Auto nicht geklaut worden ist.
    Was hält ihn davon ab, sich aufzurichten? Und was ist das für ein langer Ton? Rankestraße, Piepen, Wischen, Quietschen, irgendetwas ist da zu viel. Das Piepen bleibt, von links kommen hastige Schritte. »Defillibrieren«, schreit einer. Hat er vergessen, den Fernseher abzustellen, und jetzt läuft immer noch diese Arztserie, und gerade ist jemand gestorben, und jetzt kommt der Doktor und stellt die Geräte ab? Jemand stößt gegen sein Bett.
» Vorsicht mit dem Schädeltrauma.« Schädeltrauma, in welchem Film befindet er sich? Das lang gezogene Piepen bleibt.
    »Sind Sie durch mit dem Wischen? Wir

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