Walpurgistag
Kleidernähen. Fleisch und Kaffee gibt’s gegen Sex eine Etage tiefer, Uwe Peschel ist da ganz offen und macht auch keinen Stress, außerdem tut er alles, was sie mag, auch Lecken, das kann er sogar leiden und macht es gleich als Erstes, weil es ihn anmacht, wenn sie schreit. Außer Kaffee, Schweinefleisch und Sex ist nicht viel, die Genüsse gehen nur bis zum Mund, das Hirn bleibt unbefriedigt. Viola Karstädt weiß nach zwei Tassen Kaffee schon nicht mehr, worüber sie mit Uwe reden soll. Über Martin Heidegger und Hannah Arendt, deren Werke sie sich heimlich besorgt hat, sicher nicht. Sie gehen auch nie tanzen, weil Uwe Peschel grundsätzlich nicht tanzt, und im Kino schläft er in den Filmen, die sie mag, ein.
Zwei Semester später lernt Viola Karstädt einen Philosophiestudenten aus dem Studienjahr unter ihr kennen. Das erste Treffen findet in der Cafeteria des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität statt, wo der Kaffee nur vierzig Pfennig kostet und aus einer Kaffeebrühmaschine Typ KBM gereicht wird, aber im Gegensatz zu
Peschels Kaffee nach Abwaschwasser schmeckt. Obwohl Viola der Genauigkeit halber sagen muss, und darauf hat ihr neuer Freund sie hingewiesen, dass das mit dem Nach-Abwaschwasser-Schmecken empirisch nicht abgesichert ist. Denn sie hat auf Nachfrage zugegeben, noch nie Abwaschwasser getrunken zu haben.
Der Sex mit dem Studenten ist wenig prickelnd, manchmal liegen sie das ganze Wochenende im Bett und philosophieren, und wenn Viola dann mal etwas mehr körperliche Nähe will, redet er nach ein paar Zärtlichkeiten einfach weiter.
Uwe Peschel hat schon gemerkt, dass Viola erst seltener kommt und dann eines Tages gar nicht mehr, und durch den Türspion sieht er mehrmals ein Jüngelchen neben ihr die Treppe hochgehen, um bald darauf ein Quietschen des Bettes in der Etage über sich zu vernehmen. Es beruhigt ihn, dass er ihre Schreie nicht hört, obwohl sein Fenster weit offen steht. Er ist fast ein bisschen stolz darauf, dass sich die alte Vettel aus dem Vorderhaus diesmal nicht bei der Volkspolizei beschweren kann. (Der Abschnittsbevollmächtigte war eines Abends vorbeigekommen und hatte nach der Kontrolle der Personaldokumente den Bürger Peschel und die Bürgerin Karstädt gebeten, Intimitäten etwas leiser, jedenfalls nicht für jeden Nachbarn hörbar, auszutauschen. Der Volkspolizist verkniff sich dabei ein Grinsen, und der Bürger Peschel musste etwas von harter Schichtarbeit zum Wohle des Volkes, die er Tag für Tag verrichte, erzählen, da habe man sich nach Feierabend einen Geschlechtsverkehr mit allem Drum und Dran verdient.)
Uwe Peschel schmeißt vor Traurigkeit den Glaskrug der Kaffeemaschine vom Büfett und entsorgt die Scherben geräuschvoll in der Mülltonne. Eines Tages steht Viola Karstädt wieder vor der Tür, mit einem Original-Ersatzteil, wer weiß, wo sie das herhat. Uwe Peschel hat sich seit seiner Zerstörungsorgie mit einer Blumenvase beholfen, in die er den Kaffee laufen ließ.
Er lässt Viola rein, sie sieht blass aus. Sie trinken Kaffee und schweigen. Dann haben sie Sex. Als sie danach still nebeneinanderliegen, sagt Viola, dass sie schwanger sei. »Von mir?«, fragt Uwe und fängt an zu rechnen und auf den flachen Bauch Violas
zu schauen. »Nein«, sagt Viola. »Nicht von dir.« Und dann sagt sie noch: »Ich bin über die Frist drüber, ich kann’s nicht mal wegmachen lassen.« Mit dieser Aussage ist Uwe Peschel überfordert, und Viola geht. Das mit dem Sex schläft endgültig zwischen ihnen ein. Den Studenten sieht Peschel nie wieder neben ihr hergehen, auch keinen anderen Mann. Viola hört er manchmal nachts heulen. Tagsüber sucht sie sich eine größere Behausung als die dunkle Nordseitenwohnung. Uwe Peschel öffnet ihr mit dem Dietrich diverse leere Wohnungen, und als sie eine passende gefunden hat, in der die Sonne nicht nur ein nicht eingelöstes Versprechen ist, hilft er ihr beim Umzug. Als alles in der neuen Wohnung verstaut ist, trinken sie noch einen Kaffee bei Uwe. Er überlegt, ob er ihr zum Abschied die Kaffeemaschine schenken soll, denkt sich dann aber, wer weiß, was noch kommt. Einmal sieht er sie einen großrädrigen Kinderwagen in Richtung Kollwitzplatz schieben. Er stellt sich ihr nicht in den Weg.
Am 27. Mai 1987 tritt Uwe Peschel morgens um 6.30 Uhr, er hat die Schicht verschlafen und will noch hin, mit 1,3 Promille Restalkohol im Blut auf die Straße und wird beim Überqueren der Kastanienallee von einer Straßenbahn der Linie 46 erfasst
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