Walpurgistag
laufen, über der Schulter die schwere Tasche mit dem Werkzeug.
Micha Trepte liebt es, den Kopf gesenkt, den Weg zu beobachten, diesen Wechsel der Steine, das Patchwork der Zeiten. Bernburger Pflastersteine, Katzenköppe, von Millionen Menschenfüßen glatt gelaufene Schweinebäuche, auch die bröseligen Betonplatten, in die nicht mal ein Fuß Größe neununddreißig passt, ohne die Ritzen zwischen zwei Platten zu berühren, und seit einigen Jahren das rot-weiße Verbundpflaster, das auch schon wieder bröckelt. Kurz hinter der Greifswalder kommt ein Stück Asphalt, unterbrochen von den buckligen Steinen der Hausdurchfahrten. Dann versperrt ein Haufen Gerümpel seinen Weg. Aus einem der Häuser wird Kram getragen und an der Straße übereinandergestapelt. Eben kommt ein Mann in einer Latzhose und stellte eine Kaffeemaschine auf den Haufen. Micha Trepte ist seltsam berührt. Das bleibt also von einem Leben. Zusammengewürfelter Sperrmüll, den keiner mehr haben will. Und an jedem Stück klebt eine Geschichte.
Dem Mann in der blauen Latzhose folgt eine aufgeregte alte Frau: »Geben Sie mir meine Kaffeemaschine zurück. Die ist nicht für den Sperrmüll bestimmt. Ich wollte Ihnen gerade einen Kaffee damit kochen.« – »Da bin ick falsch informiert, Muttchen, der Chef hat jesagt, die soll weg, jenau wie die Stehlampe hier.« Der Latzhosenmann kratzt sich aus Verlegenheit am Kopf. Er ist zwei
Köpfe größer als die Frau. »Nennen Sie mich nicht Muttchen. Mein Name ist Schweickert. Sie haben keinen Respekt vor dem Eigentum.« – »Jut, Frau Schweickert. Denn nehm ick ma Ihre Kaffeemaschine wieder mit hoch.« – »Vorsicht, dass das Kaffeepulver nicht verschüttet wird oder Sie sich mit Wasser bekleckern. Da drin is nämlich schon alles vorbereitet. Sonst kriegen Sie nüscht ab.« – »Bier wär mir eh lieber«, murmelt der Latzhosenmann und trollt hinter der kleinen resoluten Frau her.
Die war bestimmt mal Hortnerin, die passt zu den beiden alten Frauen, die eben bei Muttern saßen, denkt Micha Trepte. Er läuft um den Sperrmüllberg herum. Kein Umzugswagen zu sehen. Man könnte hier einfach mit dem Auto anhalten und zwei, drei Kartons einpacken.
Auf die Kisten, die ordentlich aufgestapelt neben dem Haufen mit Sperrmüll stehen, sind Namen mit Kreide gekritzelt. »Ziebarth«, liest er, und »Brade«. Die anderen Namen kann er nicht entziffern. Eigentlich steht auf solchen Kisten immer »Küche«, »Bad«, »Papas Sammlung« oder » Vorsicht Glas«. Vielleicht hat die Alte ihre Nachbarn mumifiziert. Ist nicht die feinste Gegend hier an der lauten Straße, da wohnen manche schon siebzig Jahre in einer dunklen Einraumhinterhofbude, da kommt man auf eigenartige Gedanken.
Als Micha sich umdreht, sieht er die Straßenbahn in hohem Tempo auf dem Mittelstreifen herankommen. Werd ich mal die Beine in die Hand nehmen und ein Stück fahren, denkt Micha und spurtet quer über die Danziger Straße. Das Werkzeug in seiner Tasche klappert bei jedem Schritt.
7.40 Uhr
Viola Karstädt wacht in Neukölln im falschen Bett auf und hat ein schlechtes Gewissen
Es sind drei, das älteste Kind überragt die beiden kleineren um mehr als einen Kopf. Sie haben ihre schmalen Schultern in die äußerste Ecke der Türfüllung gequetscht, um einen guten Blick zu haben. Der Abstand zu dem, was sie beobachten, ist groß genug, um schnell weglaufen zu können, sollte etwas Unvorhergesehenes passieren. Aus Viola Karstädts Perspektive sieht es aus, als habe jemand die Kinder in der Nacht unbemerkt im Türrahmen festgeklebt. Sie stehen da wie kleine Lemminge, die eine Riesin beobachten, die ihr Gästesofa ausfüllt. Wenn einer der Kleineren versucht, den Mund aufzumachen, hält die Größere ihn zu oder schubst kurz das Knie in den Rücken des vor ihr zusammengequetschten Winzlings, sodass wieder Ruhe einkehrt. Viola Karstädt beobachtet sie aus den Augenwinkeln heraus und versucht dabei, ihren Traum an einem Zipfel in den Morgen zu holen, aber es ist ihr nichts im Gedächtnis geblieben, außer dass sie in einem Theaterkostüm durch eine Requisite ging, die aussah wie diese Wohnung.
Es ist kein Traum. Sie ist in Neukölln, im Gästebett einer fremden Familie.
7.41 Uhr zeigt die Uhr auf dem Display des Videorekorders. Wer weiß, ob die richtig geht. Viola überlegt, ob sie sich noch einmal umdrehen soll, um den Kindern zu signalisieren, dass sie ihre Ruhe haben will, aber es würde nichts nützen, das weiß sie aus Erfahrung.
Ihre
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