Walpurgistag
abgezogen, wahrscheinlich kannten sie zu viele ihrer Klienten aus der Schulzeit. In der Zeit bis zur positiven Bearbeitung ihrer Beschwerde beim Arbeitsamt Berlin gegen eine unberechtigte Sperre entdeckte Katrin Manzke bei einem Spaziergang durch Friedrichshain die Pizzeria. Die suchten Fahrer. Jetzt ist sie schon seit sieben Jahren dort, mehrmals in der Woche. Klassischer Fall von Schwarzarbeit.
Den Paternoster gibt es immer noch. Die Wände sind noch immer aus demselben Holzimitat wie vor fast dreißig Jahren. Auch das gelbe Schild klebt noch in der Mitte: »Maximal 2 Personen. Benutzung für Kinder und Körperbehinderte verboten.« Zum Spaß fährt sie einmal oben übers Dach und springt dann in der dritten Etage ab: »Kundenservice Familienname G, H, M.«
Katrin Manzke zieht die Nummer 127. Eben wird mit einem Signalton, der an die Durchsagen auf Flughäfen erinnert, die Nummer 81 angezeigt. Es sind nur zwei Zimmer besetzt. 46 Nummern, jede bleibt mindestens zehn Minuten, sind bei zwei Arbeitsvermittlern vier Stunden. Und nicht mal richtig hin- und herrutschen kann man auf den Stühlen, sie sind angeschraubt. Katrin Manzke
setzt sich ans Fenster. Die Frau neben ihr strickt Strümpfe, aber statt auf ihre Nadeln zu sehen, schaut sie bei jedem Rufton auf die angezeigte Nummer über der Tür und vergleicht sie mit der auf dem Papierschnipsel in ihrem Schoß. Ein Mann mit Halbbrille ist über seinem Buch eingeschlafen, sein Mund steht halb offen, seine belegte Zunge ist zu sehen. Die drei Männer in der Reihe links von ihr haben sich hinter ihren Zeitungen verschanzt. »Der 16-fache Mörder von Erfurt. Er plante ihren Tod ein ganzes Jahr!« – »Kylie jetzt mit Antimännerschutz.« – »Rot-Grün – totales Rauchverbot am Arbeitsplatz.« – »Das ist der Junge, der von Baron Heini Thyssen eine Milliarde erbt.« – »Das Diätgeheimnis der Beckhams: Sex, Sex, Sex.« – »Der Pariser Platz wird gepflastert.« – »Fünf Monate Stau.« – » Vor dem I. Mai: IG Metall bekäftigt Streikwillen.« Die anderen vierzig dösen oder lösen Kreuzworträtsel. Einer redet mit sich selbst in einem Ton, als wolle er sich gleich ermorden.
Katrin Manzke steht auf und geht zum Fenster. Von hier oben sieht die Gegend wie ein Szenenbild aus einem Film über Tschernobyl aus. Nur das Riesenrad von Prypjat fehlt. Einen Kilometer vor mir liegt in Richtung Norden die tote Zone. Alles verseucht. Auf dem früheren Parkplatz des Ministeriums für Staatssicherheit sind Beton und Asphalt durch den jahrelangen ungehinderten Druck des Unkrauts aufgebrochen. Die Abgrenzungen der Parktaschen bekommen dadurch etwas Verschwommenes, als würde einer mit 2,2 Promille intus nach unten schauen. Nebenan ist der Friedhof. In der toten Zone gibt es keine Beerdigungen mehr, aber bald muss es Flieder geben, den darf ich nicht verpassen.
Sie dreht sich um und schaut wieder in den Raum mit den traurigen Gestalten. Bis auf eine Dicke, die nun im Türrahmen steht und den Rauch ihrer Zigarette mit großem körperlichem Aufwand in den Flur bläst, denn das Rauchen ist nur dort erlaubt, hat sich nichts verändert. »Jibt’s bei Aldi«, sagt die Dicke über drei Wartereihen zu einer anderen dicken Frau, »kost 4,80.« Eine Fettwulst schaut zwischen T-Shirt und Jogginghose hervor. Geht halt mit der bauchfreien Mode, denkt Katrin Manzke, und dann: Aldi ist kein schlechter Vorschlag, geh ich halt zwischendurch mal einkaufen.
Ehe ich hier depressiv werde. Sie verstaut Wartenummer 127 in ihrer Hosentasche und springt in den Paternoster, als der Gong für 85 ertönt. Unten vor der Tür schreibt sie schnell noch eine SMS an den Mann, mit dem sie heute Sex haben wird, wo auch immer: »Hey, schläfst du noch? Ina.« Klingt irgendwie blöd. Egal. Der Name Ina hat mir schon immer gefallen. Wenn ich mich damals entschlossen hätte, wie alle in meiner Familie für die Staatssicherheit zu arbeiten, ich hätte diesen Namen gewählt.
Auf dem Weg zum Auto sieht Katrin Manzke ihre frisch geschiedene Nachbarin, die mit dem Typen vom Imbiss gegenüber dem Arbeitsamtseingang anbändelt. »Überlebensteller 2,99 Euro«, steht auf einer Sonderangebotstafel. Der Imbissbesitzer war früher ein Kollege ihres geschiedenen Mannes. Ist aber im Irak in Ungnade gefallen. Katrin Manzke hat vergessen, warum, wahrscheinlich Weibergeschichten. »Hey, Katrin«, ruft er über seinen Tresen, »ist das Leben noch frisch?« Katrin tut so, als habe sie nichts gehört, und geht zügig zu ihrem
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