Walpurgistag
Auto.
Kongohubert, ein ehemaliger Meisterspion, schlurft in Hauspuschen, von den Mülltonnen kommend, über die Straße. Er hat eine Alditüte in der Hand, die er nach links umgedreht hat, wie es früher in ihrer Schule vorgeschrieben war, damit niemand die Werbung sah und so vom Klassenfeind beeinflusst wurde. Um ihn nicht grüßen zu müssen, kramt Katrin Manzke in ihrem Handschuhfach. Dann startet sie den Wagen und fährt zügig aus der Parklücke. An der Ecke Normannenstraße endet ihr Ghetto.
Der Parkplatz von Aldi war mal der Appellplatz ihrer Schule. In die Fenster der Klassenzimmer sind große Buchstaben geklebt, die zusammen die Worte »Frieden der Welt« ergeben.
Besonders im Sommer war der Appellplatz ein unangenehmer Ort. Denn immer standen sie gegen die Sonne und konnten die Pionierleiterin nur blinzelnd erahnen. Bis auf eine, deren Vater bei der Staatlichen Plankommission arbeitete und die deswegen fast schon eine Außenseiterin war, hatten alle Väter mit einer mehr oder minder geheimnisvollen Arbeit in den Häusern der Normannenstraße.
Katrin Manzke läuft denselben Weg, den sie früher als Gruppenratsvorsitzende zurücklegen musste, nur dass sie jetzt noch einen Einkaufswagen mitnimmt. Damals ging sie festen Schrittes und den Rücken durchgedrückt in Richtung der Fahnenstange, unter der die winzige Pionierleiterin stand, die Katrin Manzke schon mit dreizehn um einen Kopf überragte. Immer war der Pionierknoten schief, wenn Katrin – den rechten Arm rechtwinklig über dem Kopf und die Hand parallel über dem Mittelscheitel gestreckt – meldete, dass die Klasse 7b bis auf einen Pionier vollzählig angetreten sei. Der fehlte schon seit Beginn des Schuljahres unentschuldigt. Katrin hat seinen Namen vergessen. Dabei hatte er sie in den Sommerferien vor seinem Verschwinden geküsst, gleich hinter den Parkplätzen zwischen den Unkräutern. Er hatte seine Zunge in ihren Mund gesteckt und den Kopf hin- und hergedreht dabei. Katrin Manzke hatte niesen müssen. Damals hieß das noch nicht Allergie, damals war man nur etwas empfindlich.
Sie hat ihn nie wiedergesehen. Der Heuschnupfen ist geblieben. Papiertaschentücher, denkt Katrin, Papiertaschentücher darf ich nicht vergessen. »Die Klasse 7b der Vinzent-Porombka-Oberschule verpflichtet sich, das Andenken des Widerstandskämpfers zu ehren, indem wir in diesem Schuljahr hundert Kilogramm Altpapier mehr sammeln und das Geld den Genossen in Vietnam spenden.« Dieser ganze Schutt in ihrem Kopf. Wären doch nur die Englischvokabeln hängen geblieben. »Die Schaffnerin war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, aber in ihrer Brust steckte ein bestialisches Naziherz.« Der einzige Satz aus den Erinnerungen des Kundschafters Vinzent Porombka, den sie behalten hat. Sie muss lauthals lachen.
Der Alte mit dem Hackenporsche und dem Lederolhütchen schaut sich empört nach ihr um. Hauptabteilung VIII, Observierung, Ermittlung, Festnahmen, denkt Katrin Manzke, sie sind immer sofort zu erkennen, da braucht man gar nicht dabei gewesen zu sein. Sie schiebt ihren Wagen an den Kühltruhen vorbei. Auf dieser Höhe muss die Fahnenstange gewesen sein. Was die Pionierleiterin wohl heute macht? Sehr lustig, dass man eine
Schule mit lauter Kundschafterkindern nach einem Kundschafter benannt hat. Einem, der laut Pionierleiterin heroisch über feindlichem Gebiet absprang, statt in der Sowjetunion zu bleiben und den Sieg des Kommunismus über den Faschismus abzuwarten. Dafür hatte er dann auch im Foyer der Schule eine Gedenk-Ecke bekommen. Und jeder Pionier war verpflichtet, seine Erinnerungen, Mit Funkgerät im Hinterland, zu lesen. Katrin Manzke muss schon wieder lachen. So bewegen die sich alle hier. Kundschafter im Hinterland. Spione bei Aldi.
Am Kühlregal steht noch so ein Tattergreis. Seine grauen Augen durchbohren jeden, der ihm den Weg versperrt. Mit sehr langsamen und wackligen Bewegungen versucht er, an den Schinken im oberen Regal heranzukommen. Katrin Manzke sieht ihm ungerührt zu. Von hinten nähert sich ein jüngerer Mann und sagt: »Vater, was willst du denn mit dem Schinken, du darfst doch gar keinen mehr essen«, gerade als der Mann die Verpackung an der Schweißnaht aus dem Regal ziehen kann. Mit einem Plumps fällt der Schinken auf die Joghurtpackungen. Der Sohn tut ihn wortlos wieder ins oberste Fach und schiebt den Wagen in Richtung Diätregal. »Ich esse Schinken, wann’s mir passt«, ruft der Greis mit erhobenem Zeigefinger, »das lasse ich mir vom
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