Walter Ulbricht (German Edition)
Beitrag gedacht war, den Achim, selbst schon mit der eigenen Wortmeldung beschäftigt, nur flüchtig wahrgenommen hatte, suchte er wohl nach einem Stil seiner Entgegnung, der jede Schärfe vermied. »Warum sage ich das, liebe Freunde und Genossen.« Jetzt schien er sicher zu sein und wandte sich mit voller Brustseite, gekleidet in ein dunkelblaues Sakko, wie auch die anderen am Präsidiumstisch, mit weißem Hemd und rotgestreifter Krawatte, den Versammelten zu. »Was wir allerdings nicht gestatten werden, das ist jede Art der Verunglimpfung unserer Werktätigen, der Pioniere unseres gesellschaftlichen Aufbaus. Das besorgt doch bereits die Westpresse, und das müssen nicht auch Sie noch tun. Die Arbeiterklasse aber und ihre Verbündeten sind die tragenden Kräfte dafür, dass hier, auf dem Boden der DDR, die Banken und Konzerne des Kapitals zum Teufel gejagt wurden, Volkseigentum entstehen konnte, was die ökonomische Grundlage all unseres Schaffens bildet, der Politik des Friedens und des Wohlstands für die arbeitenden Menschen. Wir haben die Brutstätten der Kriegstreiberei und des Völkermords ausgeräuchert, die Stahlkammern des Profits und die Adelsnester auf dem Lande. Das aber, Genossen und Freunde, ja?, das werden uns unsere Feinde niemals verzeihen. Unsere Partei kennt sie.«
Er blickte in die Runde des Präsidiums und erntete ein heftiges, zustimmendes Kopfnicken. »Seit über einem Jahrhundert, spätestens seit Marx und Engels kennen wir sie. Unsere Partei des wissenschaftlichen Sozialismus ist im Kampf gegen sie entstanden. Und deshalb bitte ich Sie, vertrauen Sie unseren Erfahrungen. Solange noch Leben im verrottenden Körper des Kapitalismus steckt, solange wird er versuchen, den Siegeszug des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik zu stoppen, seine enteigneten Fabriken und Güter zurückzuerobern, die sozialen und geistigen Errungenschaften in unserem Lande zu löschen, und unsere Ideale wie unsere revolutionäre Ehre, was ja im Westen schon jetzt andauernd geschieht, der Schmach und der Verfolgung aussetzen.«
Er unterbrach sich erneut, hüstelte und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund. Es war schneeweiß, und als er sich damit übers Kinn und den grauen Bart wischte, fiel Achim die Größe der Hände von Walter Ulbricht auf, so dass er dachte, es könnten tatsächlich die eines Bauarbeiters sein, eines Tischlers, wie man ja von ihm wusste.
»Hören Sie uns bitte zu«, sagte er jetzt, nachdem er kurz noch einmal darauf zu sprechen gekommen war, weshalb es sich die Partei nicht gefallen lassen könne, die Gestaltung von Konflikten im Lande derart zu übertreiben, dass ihre Funktionäre als Holzköpfe oder Witzfiguren erschienen. »Natürlich gibt es auch Genossen, die ihren Aufgaben nicht gewachsen sind. Die allerdings sollten Sie ebenfalls ernst nehmen und Ihre Ästhetik dazu selber entwerfen. Uns jedoch geht es hierbei nicht um Literatur, ich betone: nicht um Literatur. Es geht noch immer, auch bei jeder Ihrer Zeilen, um den Existenzkampf zweier diametral entgegengesetzter Gesellschaftssysteme!«
Achim hätte nicht gewusst, was es an dieser prinzipiellen Standortzuweisung von Kunst und Literatur zu hadern gegeben hätte, er billigte sie. Unbedingt aber durfte sie nicht pauschal auf das praktische Schaffen bezogen werden, sondern geprüft und beurteilt am Einzelfall eines Werkes und einsichtiger, achtungsvoller, als es zurzeit mit seinem Manuskript geschah.
Die Debatte war nach den Worten Walter Ulbrichts neu eröffnet worden, und Achim wollte sich anschließen. Er fragte sich gerade, welche Anrede er wählen sollte (die Teilnehmer vor ihm hatten meist ein respektvolles »Sie« gebraucht, in Verbindung mit Genosse, »Genosse Ulbricht, Sie«, andere hatten ihn auch »Herr Vorsitzender« genannt, wieder andere »Genosse Erster Sekretär« und einige gar, beispielsweise Fritz Selbmann, ehemals Minister für Schwerindustrie, der nach seiner Ablösung nun ebenfalls einige Romane veröffentlicht hatte, sprachen ihn schlicht und einfach mit seinem Vornamen an, »Walter, Du …«). Da die Beratung im Vorfeld des achten Parteitages stattfand, obgleich in den Räumen des Staatsrats, glaubte Achim jedoch, nicht fehlzugehen, wenn er sich des Wortes »Genosse« bediente. Er hob die Hand, wurde aufgerufen, trat hinter seinen Stuhl und brachte seine Kritik an der Hauptverwaltung Verlage des Ministeriums für Kultur vor, indem er auf das Schicksal seines Romans »Schatten des aufgehenden
Weitere Kostenlose Bücher