Walter Ulbricht (German Edition)
entgegen, er hatte sein ganzes Leben lang damit zugebracht, sich von dem, was ihm außerhalb seines Elternhauses stets als gutbürgerliche Moral vorgehalten worden, zu lösen, ja, nicht einmal erst an sich herankommen zu lassen und den Wegen von Vater und Mutter zu folgen. Es gab Zeiten, da war es ihm nicht gelungen, am Ende des Krieges und danach, unterm Einfluss scheinheiliger Volksverhetzer, auch später noch, in den Wintern des Hungers, doch wie froh war er gewesen, sich davon befreit zu haben. Kunst und Literatur, ob klassisch oder bürgerlich-kritisch, von welcher Gestalt auch immer, selbst die Romantik, sobald sie nur, durch marxistisches Denken geläutert, erlebbar war, aufgehoben im Sinne Hegels, hatten daran das größte Verdienst gehabt. Und deshalb war er jetzt Walter Ulbricht dankbar, dass der keinen Tanz vollzog wie auf glühenden Kohlen, sondern die Dinge beim Namen nannte, die Erwartungen, die sowohl vom Staat als auch von der Partei den Schriftstellern und Künstlern aufgetragen werden sollten.
Er stand an dem weißgedeckten Tisch, in dessen Mitte, hinter sich breit die in Hellbraun holzgetäfelte Wand, bis zur mittleren Höhe in einer Zickzack-Struktur und mit hohen Fensterbuchten, durch deren Scheiben das jetzt trüber gewordene Licht des regenverhangenen Januartages fiel. Er sprach ruhig, unterstützt nur von knappen Bewegungen seiner Hände, wandte sein Gesicht mehrmals eher den Männern im Präsidium zu, den Funktionären, als den Gästen im Saal, den Kunstschaffenden, die er eingeladen hatte, so, als müsse er auch sie überzeugen von dem, was er sagte. Viel später erst hatte Achim erfahren, dass Ulbricht tatsächlich diese Zusammenkunft nicht, wie sonst üblich, mit dem Politbüro abgesprochen hatte, woraus sich dann auch erklären ließ, weshalb er die Schriftsteller und Maler in den Staatsrat und nicht in das Haus des Zentralkomitees gerufen hatte, zumal, wie sich nun zeigte, auch parteilose Künstler und solche von anderen Parteien anwesend waren. Seine Stimme, fand Achim, mit den Füllseln der fragenden Jas jeweils am Ende der Sätze, klang zunächst in der Tonlage, wie man sie von ihm gewohnt war, sehr hell, nahm aber mit der Zeit eine gedämpftere, rauere Färbung an.
Die Kunst des Schriftstellers, sagte er, bestehe darin, sich so eng mit dem Volk zu verbinden, dass er die neuen Erscheinungen der gesellschaftlichen Entwicklung erkennt und sich bemüht, sie literarisch zu gestalten, mit all den Konflikten, die dabei auftreten. Das aber erfordere deren geistige Durchdringung, das Wissen um ihre Weiterbewegung in Widersprüchen, so dass unser sozialistischer Aufbau nicht als ein Werk der Technik – das auch, ja? – sondern vor allem als Menschenwerk empfunden wird. Es setzt die Einsicht voraus, den Willen und das Bestreben, sich mit der Kunst in die revolutionären Veränderungen hin zu einer Gesellschaft zu integrieren, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt ist und für jeden – für jeden – ein Leben im Frieden möglich sein wird.
Ein Maler aus Halle, der vor einem Jahrzehnt noch, was Achim in der Presse verfolgt hatte, den heftigsten Angriffen wegen angeblicher Übernahmen von formalistischen Stilelementen Légers und Picassos in seine oft als Hommagen auf Menschen in historischen Prozessen gedachten Gemälde ausgesetzt gewesen, ergriff, nachdem zur Diskussion aufgefordert worden war, als Erster das Wort. Achim fand es kühn von ihm, glaubte aber, der Mann drängele sich nur vor, zumal er mit einer Eloge auf das letzte Plenum des Zentralkomitees, das 14. der Wahlperiode, anhob, weil er die Kritiken an seiner Malweise und – was nicht ausblieb – an seiner Person vergessen machen wollte. Bald aber hörte er, dass dies nicht der Grund sein konnte, da man ihn erst vor kurzem zum Vizepräsidenten des Verbandes Bildender Künstler berufen hatte, er also aus dem Sammelsurium von Unkenntnis, Missgunst und Beckmesserei ziemlich unbeschadet davongekommen war. Dann jedoch begann er über die Synthese von Architektur und Malerei bei künftigen Neubauten zu sprechen, sowohl in den Städten als auch in der Industrie, verwies auf die großräumigen volksmythischen Arbeiten der Mexikaner Rivera und Siqueiros, und das war, wie man wusste, kein allseits lobwertes Thema. Sein Ton nahm manchmal an Schärfe sogar zu, er stritt darum, die Ideale der Arbeiterklasse nicht nur in der Gestaltung ihres Milieus, ihrer Privatsphäre, sozusagen an den gegenüber dem Biedermeier
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