Walter Ulbricht (German Edition)
zivilisatorischer Imperativ, aber durchaus kein Wirtschaftsförderungsprogramm. Aber nicht nur mir und meiner Familie als Antifaschisten machte das Eindruck.
Mit dem Kriegsende war die sowjetische Besatzungszone von der im Westen angesiedelten Schwerindustrie getrennt, hatte anderthalb zerschossene Hochöfen – im Vergleich zur BRD, die ein Vielfaches an Hochöfen besaß, die von der anglo-amerikanischen Luftwaffe zuvor auch wohlweislich geschont worden waren. Industrielle Reste in Ostdeutschland waren zur Reparation von den Sowjets bis auf die Eisenbahnschwellen demontiert worden. Während die USA- und andere Westkapitalien via Marshallplan usw. finanziell freie Spitzen in ein gigantisches Wiederaufbauprogramm Westdeutschlands gesteckt hatten.
Je mehr mir dann als Schüler die Notlage als Ausgang der DDR klarer wurde, desto genauer besah ich kluge wirtschaftliche Maßnahmen, ja, eigenwillige Improvisationen des Walter Ulbricht. Erst wirklich erschloss er sich mir, als mir, allerdings später, Lenin und dann Bucharin (der sogenannte Rechtsabweichler der Bolschewiki) sympathisch wurden und deren Neue Ökonomische Politik, die ja auch privaten klein- und mittelständischen Besitz strategisch aufwertete.
Dann, als linker Unternehmer (und als Bundesvorsitzender der SPD-Unternehmer), begriff ich in der eigenen Arbeit, wie nötig und kompliziert gleichermaßen die Einbeziehung kleiner und mittlerer Betriebe in eine postkapitalistische Ökonomie, die wir auch antimonopolistische Demokratie nannten, ist. (Weil eben der Staat für die Führung kleiner Handels- und Handwerksbetriebe nichts Wirkungsvolleres in seinem Instrumentenköfferchen hat als das Drosseln von Talent und Privatinitiative.)
Später las ich Haffners Äußerung über Ulbricht, die besagte, dass nach Bismarck Ulbricht einer der bedeutendsten deutschen Politiker war.
Ulbrichts Name ist also für mich heute auch verbunden mit dem Versuch der Reform der DDR-Wirtschaft in Gestalt des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung. Mit Weitblick hat er sich dafür besonders während der Jahre 1962/63 eingesetzt. Wenn in der Wirtschaft des Landes – wie im Ministerratsbeschluss vom 11. Juli 1963 festgelegt – ökonomische Hebel wie Selbstkosten, flexiblere Preise, Gewinn als Entscheidungsfaktor, Kredite, Löhne, Prämien zur Geltung kommen sollten (eine Art sozialistisches »check & balance«), dann sehe ich darin heute einen realistischen, erfolgversprechenden Ansatz für die Überwindung des Arbeitsproduktivitätsrückstands der DDR gegenüber der BRD und damit auch für die Erhöhung des politischen Gewichts der DDR in den deutsch-deutschen Beziehungen. Die damals einsetzende Steigerung der jährlichen Akkumulationsrate von 17,6 Prozent (1963) auf über 20 ab 1965 bezeugte die Wirkung eines solchen Wirtschaftens. Demgegenüber wurde später, als das große antifaschistische Gründerfeuer der DDR allmählich zur Sparflamme wurde, der überwiegende Teil der bis dahin noch existierenden nicht volkseigenen Unternehmen verstaatlicht. Betroffen waren Privatunternehmen, Betriebe mit staatlicher Beteiligung und Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH). Zum Vorteil für die DDR-Wirtschaft war das jedenfalls nicht. Zum Abbau von Schlangen, Unzufriedenheit und entsprechendem Spitzelbedarf trug das auch nicht bei.
Nachhaltigen Eindruck machten auf mich auch Walter Ulbrichts Aktivitäten in Sachen »Konföderation« in Richtung »Deutschland, einig Vaterland«. Ich nenne diesen Begriff hier als Sammelkennzeichen für Vorschläge zunächst zur Entkrampfung des Verhältnisses zwischen beiden deutschen Staaten. Dazu gehörten etwa die Übersendung eines Entwurfs für »Grundsätze zur Wiedervereinigung Deutschlands als friedliebender demokratischer Staat«, 1964 die Anregung, BRD-Presseorgane wie Die Zeit und Süddeutsche Zeitung in der DDR und DDR-Blätter wie Neues Deutschland in der BRD zum Verkauf anzubieten, sowie 1966 der Vorschlag eines Redneraustausches.
Der Konföderationsgedanke wurde in einer zweiten Variante wieder aufgegriffen: ein Verständigungsfrieden und Versöhnung seien anzustreben. Die Willy-Willi-Gespräche zwischen Brandt und Stoph in Erfurt und Kassel 1970 hatten ihren Ursprung ebenfalls in einer Anregung Walter Ulbrichts. Auf dem VII. Parteitag der SED 1967 hat er sie unterbreitet. Ähnliches gilt für die Aufnahme der deutschen Staaten in die UNO und den Vertrag über die Nichtanwendung von Gewalt zwischen beiden deutschen Staaten
Weitere Kostenlose Bücher