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Walter Ulbricht (German Edition)

Walter Ulbricht (German Edition)

Titel: Walter Ulbricht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Krenz (Hrsg.)
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Rücken oder mit seiner Zustimmung erfolgt war. Der Satz fehlte jedenfalls. Auf der Sitzung der Kommission mit den Experten hatten wir die Möglichkeit, unsere Einwände gegen diese Vorlage vorzutragen. Jeder äußerte sich zu dem Teil, den er verantwortete.
    Ich stand also auf und erklärte, dass ich mit den Veränderungen der deutschlandpolitischen Passagen nicht einverstanden sei und vorschlüge, beim ursprünglichen Text zu bleiben. Es regte sich Protest. Ulbricht, der die Sitzung leitete, beschwichtigte: »Ruhig, Genossen, hören wir uns doch mal genau an, was der Genosse Voß meint.«
    Ich denke, Ulbricht sah hier die Möglichkeit, sich in der deutschen Frage noch einmal klar zu positionieren. »Hast du einen genauen Text zur Hand, Genosse Voß? Komm doch mal vor und zeig ihn mir.«
    Ich ging also zum Präsidium und legte das Papier auf den Tisch. Er schaute darauf und sagte, das scheine ihm nachdenkenswert. Wir sollten darum jetzt nicht entscheiden und nur zur Kenntnis nehmen, was vorgeschlagen worden sei.
    Ulbricht blieb beim Ursprungstext?
    Ja. Denn die schließlich durch Volksentscheid 1968 angenommene Verfassung enthält diese nationalen Elemente. Sie wurden bekanntlich erst in der 74er Fassung, nach Ulbrichts Tod, getilgt.
    Das Festhalten an dieser Formel, die ja praktisch die deutsche Einheit als Perspektive beschrieb, hätte Konsequenzen gehabt. Ich meine nicht jene, dass Ulbricht an die Überwindung der Zweistaatlichkeit unter sozialistischer Flagge dachte, sondern die Zugehörigkeit beider Staaten in verschiedenen Militärbündnissen. Da sich diese feindlich gegenüberstanden, bedeutete dies ein Ausscheiden aus Warschauer Vertrag und NATO. Ist das diskutiert worden?
    Unter uns Experten schon. Ein vereintes neutrales Deutschland war eine denkbare Option. Wir haben damals ernsthafter, als später dargestellt, über die Möglichkeit einer Konföderation gesprochen.
    Aber die Machtverhältnisse in einer solchen Konföderation waren doch absehbar, da brauchte man nur auf die Landkarte zu schauen. Im Osten wäre der gesellschaftliche Fortschritt zurückgedreht worden, es hätte – wie nach 1990 brachial erfolgt – eine Restauration überwundener Macht- und Klassenverhältnisse gegeben.
    Ulbricht war für eine sozialistische deutsche Nation. Deshalb hieß es explizit in Artikel 8: »Die Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger erstreben darüber hinaus die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus.« 13
    War das nicht illusionär?
    Das mag man mit dem Wissen von heute so sehen. Ich glaube aber, dass jede erfolgreiche Politik eine Vision braucht, eine langfristige Perspektive verfolgen muss. Ulbrichts Idee passte weder den Großmächten noch deren Verbündeten in Bonn und Berlin in den Streifen. Deshalb störte er und wurde abserviert. Auch die SPD hatte 1958 einen Deutschlandplan vorgelegt, der gefiel den Amerikanern nicht – deshalb verschwand er innerhalb kurzer Zeit. Das heißt, alle deutsch-deutschen Annäherungsversuche wurden sowohl von der westlichen als auch von der östlichen Führungsmacht beargwöhnt. Dennoch war die Haltung richtig. Ich habe damals Ulbrichts Überlegungen und sein Agieren in der deutschen Frage unmittelbar beobachten können und teile die Auffassung von Egon Bahr, die dieser erst unlängst wieder in seinem Buch »Gedächtnislücken« artikulierte: Es gab in der Nachkriegszeit nur zwei deutsche Staatsmänner von Bedeutung – Adenauer und Ulbricht. 14
    Du hast Monate später Ulbricht erneut unmittelbar erlebt in der Vorbereitung der Treffen in Erfurt und Kassel.
    Ich war im Außenministerium Leiter der für die Bundesrepublik zuständigen Abteilung und im Auftrag Ulbrichts in Bonn. Ich übergab den Brief, den er an Bundespräsident Heinemann geschrieben hatte. Michael Kohl und ich hatten den Brief formuliert, aber die Initiative dazu ging von Ulbricht aus. Er wollte auch mit Heinemann sprechen, was wir ihm aber ausreden mussten: Der Bundespräsident war nicht seine bzw. keine Gesprächs- oder Verhandlungsebene. Heinemann reagierte auch wie erwartet: Die Antwort ging an Ministerpräsident Stoph.
    Du bist also mit dem Auto nach Bonn ins Bundespräsidialamt gefahren, hast gesagt: Guten Tag, ich bin der Herr Voß, ich habe Post vom Staatsratsvorsitzenden der DDR für den Herrn

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