Walter Ulbricht (German Edition)
Bundespräsidenten. Oder wie muss man sich das vorstellen?
Ich war avisiert und wurde bereits von Horst Ehmke und Dietrich Spangenberg erwartet. Ehmke war bis vor kurzem Staatssekretär im Bundesjustizministerium, das Gustav Heinemann in der Großen Koalition führte. Dann war er selber Justizminister, als Heinemann kandidierte und Bundespräsident wurde, und seither, in der sozialliberalen Bundesregierung unter Willy Brandt, war er Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes. Spangenberg war unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt Chef der Berliner Senatskanzlei, dann Senator für Bundesangelegenheiten und nunmehr Staatssekretär im Bundespräsidialamt. Obwohl das Schreiben nicht an sie gerichtet war, machten sie das Kuvert in meinem Beisein auf und lasen. Dann nahm das Ganze seinen bekannten Lauf.
Also halten wir fest: Der Anstoß für den deutsch-deutschen Dialog kam von Ulbricht.
So ist es. Und dass Bonn erstmals darauf reagierte, war ein Fortschritt. Es stärkte Ulbricht in seiner nationalen Position.
Die beiden Begegnungen in Erfurt und Kassel brachten keine greifbaren Resultate, man trennte sich zu einer »Denkpause«. Lag es nur daran, dass die internationale Konstellation noch nicht so weit war?
Sicher lag das daran. Auch in der Führung der SED gab es dafür keine Mehrheit, nach meinem Eindruck war Ulbricht in dieser Frage isoliert. Ulbricht wollte Bewegung in die deutsch-deutschen Beziehungen bringen, das Politbüro nicht. Die machten ihre Witzchen: Denkpause vom Denken oder Denkpause zum Denken hieß es, um das Unternehmen ein wenig herunterzuspielen. Es ist ja nichts dabei herausgekommen, war ja nichts.
Du warst Teil der DDR-Delegation in Erfurt und Kassel.
Ich war Sekretär der Delegation. – Ich will aber widersprechen. Es ist nicht nichts dabei herausgekommen. Es ist etwas Wesentliches passiert: Zum ersten Mal in der Geschichte verhandelten die beiden deutschen Regierungschefs auf Augenhöhe miteinander! Dass bei dieser ersten Begegnung etwas Greifbares herauskommen würde, war nach zwei Jahrzehnten erbitterter Feindschaft doch nicht zu erwarten. Aber Erfurt und Kassel demonstrierten vor aller Welt: Die beiden Staaten und ihre Spitzen wollen miteinander reden und können auch miteinander reden. Der Gesprächsfaden war aufgenommen und sollte nie wieder reißen. Bei Egon Bahr liest sich das so: »Das erste Treffen der beiden deutschen Regierungschefs war eine Nachricht. Aber überzeugender waren die Bilder aus Erfurt. Sie zeigten, für viele in Ost und West überraschend: Wenn man die Deutschen lässt, wollen sie sich vereinigen.« 15
Von deinem damaligen Chef Otto Winzer stammt der treffende Kommentar auf Bahrs Politik des Wandels durch Annäherung: Er nannte sie Konterrevolution auf Filzlatschen. Hat er es damals schon gesagt oder erst später?
Obwohl ich selber recherchierte, wann und wo Winzer das gesagt haben soll, muss ich den Beweis schuldig bleiben. Ich habe keine Quelle gefunden. Aber Bahr meinte einmal: Wer immer das gesagt hat: Er hatte damit Recht!
Auf alle Fälle stammt dieses Zitat aus der Zeit vor Erfurt und Kassel. Das Wort kam m. E. im Zusammenhang mit Brandts Regierungserklärung 1969 auf. Er hatte die DDR mit seiner Formulierung der zwei Staaten in Deutschland in Zugzwang gebracht.
Inwieweit war man sich auf unserer Seite bewusst, dass diese Annäherung existenzielle Folgen für die DDR haben könnte? Die Winzer zugeschriebene Bemerkung deutet es an, dass man es spürte.
In dieser Phase wurde in der DDR-Führung heftig diskutiert: aktiv sein oder abblocken? Ulbricht war für aktives, offensives Handeln. Die Mehrheit sah das anders und versuchte – am Ende erfolgreich – mit Moskaus Hilfe zu blockieren. Diese Kontroverse drang nicht an die Öffentlichkeit. Ulbricht aber setzte sich gegen alle durch und erklärte: Wir verhandeln! Und offenkundig hinter dem Rücken der sowjetischen Führung, denn Bahr, der sich seiner exorbitanten Kontakte zu Moskau rühmte, habe dort erfahren, dass Ostberlin das Treffen in Erfurt vorgeschlagen habe, »ohne Moskau zu konsultieren« 16 . Er habe sich für diese Auskunft mit der Nachricht revanchiert, dass Brandt bereits das Treffen vorbereiten lasse. Und schließlich weiter: »Über eine verschlüsselte Standleitung erhielt Moskau aus Bonn schneller, korrekter und ausführlicher als aus Ostberlin Bericht über den für die DDR nicht angenehmen Ablauf der Ereignisse in Erfurt mit dem Durchbrechen der
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