Walter Ulbricht (German Edition)
in der Regel lange. Die Sitzungen begannen 16 Uhr. Erst informierte Ulbricht über aktuelle Fragen, dann wurden die vorgegebenen Tagesordnungspunkte abgehandelt, d. h. es wurde dazu diskutiert. Dir muss ich es nicht erklären, aber zum besseren Verständnis der Nachgeboren will ich noch kurz sagen, worin der Unterschied bestand: Das Sekretariat war ein operatives Arbeitsgremium, die einzelnen Sekretäre waren für bestimmte Bereiche zuständig. Du warst ja später, wenn ich mich richtig erinnere, für Jugend, Sport, Staat und Recht und Sicherheitsfragen verantwortlich. Das Politbüro hingegen war das kollektive politische Führungszentrum, das sich insbesondere mit strategischen Fragen beschäftigte. Aufgrund häufiger Personalunion verschwanden aber in der Außenwahrnehmung zwangsläufig die Grenzen zwischen Sekretariat und Politbüro.
Im Archiv liegen zwei Formen der Protokolle – es gibt sie als Rohfassung und als Reinschrift. Aber es existieren keine Wortprotokolle. Warum nicht?
Auch darin folgte man dem Vorbild der KPdSU. Manch grundsätzliche Ausführung, die Walter Ulbricht wichtig war, wurde ausformuliert, aufgenommen und auch von der »Allgemeinen Abteilung« ins Russische übertragen. Dieser Text ging nach Karlshorst. Zumindest in den 50er Jahren.
Es heißt, bis 1955 habe Semjonow an den Sitzungen des Politbüros teilgenommen.
Manchmal ja. Regelmäßig aber nur an den Tagungen des Parteivorstandes.
Leider gibt es keine Wortprotokolle. So ist nicht überliefert, welchen Meinungsstreit es in den Führungsgremien der Partei gegeben hat, wie diskutiert wurde, wer was warum wie gesagt hatte und so weiter. Für das Verständnis der Politik der Partei wäre das außerordentlich wichtig gewesen, insbesondere für die Nachwelt. Und außerdem wäre weniger Raum für Spekulationen gewesen.
Ich fand es nicht bedauerlich.
Weil es weniger Arbeit für dich bedeutete?
Nein. Als ich zum ersten Mal nach 1990 zum Verhör zur Staatsanwaltschaft musste und die ganzen Aktenordner dort stehen sah, dachte ich: Bloß gut, dass ich nicht alles aufgeschrieben habe und sie mich nun nach jedem Detail fragen könnten. Aber du hast schon recht: Die sogenannten Aufarbeiter, die keine Ahnung von uns und unserer Geschichte haben, interpretieren alles Mögliche in diese Protokolle hinein, nur nicht das, wie es wirklich war. Manche nehmen die den Protokollen beigefügten Politbürovorlagen gleichsam als Gesetz, ohne zu überprüfen, wie dann der Beschluss am Ende, nach der Diskussion, aussah. Manche Vorlage fiel auch durch, wurde nicht angenommen. Ich habe es den Vernehmern versucht zu erklären und merkte gleich: Das interessierte sie überhaupt nicht. Sie wollten nur Belastendes, nichts Entlastendes.
Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass in den politischen Führungsgremien der DDR auch heftig diskutiert wurde.
Sie wollen es sich auch nicht vorstellen. Denn das passt nicht in ihr Bild von der Diktatur. In ihrer Vorstellung hat immer nur einer geredet und alle anderen haben nur genickt. Das ist nicht wahr. Ich habe heftige Diskussionen erlebt, harte Auseinandersetzungen, bei denen die Fetzen flogen. Wilhelm Pieck konnte richtig laut werden. Das glaubt man kaum, weil das Bild in der Öffentlichkeit das eines grundgütigen, väterlichen Mannes war. Das war er natürlich auch. Aber er konnte in politischen Debatten auch ziemlich heftig werden.
Es heißt doch, Pieck sei der Ausgleichende gewesen, während Ulbricht zuspitzte.
Wilhelm konnte sehr wohl mit der Faust auf den Tisch hauen. Der hat sich auch vom Walter nicht die Wurst vom Brot nehmen lassen.
Wie war das Verhältnis zwischen Pieck, Grotewohl und Ulbricht?
Es war wirklich freundschaftlich. Sie waren nicht nur politisch, sondern auch menschlich eng verbunden.
Ulbricht, wird nachgetragen, konnte grob sein, insbesondere zu seinen Mitarbeitern.
Das ist Unsinn. Als ich kam, war Lotte Kühn seine persönliche Mitarbeiterin. Vor ihr hatte man im Hause sogar mehr Respekt als vor ihm. Sie war in manchen Dingen ja wirklich streng und resolut. Er war zugänglicher, offenherziger.
Ulbricht hatte noch eine zweite persönliche Mitarbeiterin, Gustel Zörnig, eine sehr nette Kollegin mit jüdischem Hintergrund, die uns später verließ. Die Gründe sind mir nicht bekannt. Und er hatte noch eine Sekretärin, die Anni Herbold, das war eine Wienerin, die mit ihm aus Moskau gekommen war. Von denen hat man dergleichen nicht vernommen.
Kannst du dich noch erinnern, wie die Stimmung
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