Walter Ulbricht (German Edition)
integrierten sie zu einer Nation, die zwar eine relativ einheitliche Gemeinschaft gegenüber anderen Nationen bildete, in ihrem Inneren aber trotzdem durch scharfe Klassengegensätze und entsprechende Interessen charakterisiert und zerrissen war.
Der faschistische deutsche Staat war im Ergebnis des Sieges der Antihitlerkoalition vernichtet worden, aber die deutsche Nation blieb weiter bestehen. Wären die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens eingehalten worden, dann hätte auch ein einheitlicher deutscher Staat errichtet werden können. Allerdings musste er demilitarisiert bleiben und die ökonomischen und sozialen Grundlagen des Faschismus hätten beseitigt werden müssen. Dadurch wäre die kapitalistische Grundlage der Nation erhalten geblieben, aber die Macht der großen Konzerne und Banken gebrochen gewesen, und die weitere Entwicklung der deutschen Nation wäre in politischen Auseinandersetzungen durch das entstehende Kräfteverhältnis der demokratischen Parteien und ihre Massenbasis bestimmt worden.
Auf längere Sicht konnte das auch die Perspektive des Übergangs ganz Deutschlands zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft einschließen, zumal auch in Westdeutschland damals nicht nur die SPD unter Schumacher, sondern selbst die CDU unter Adenauer öffentlich die Auffassung vertraten, dass der Kapitalismus versagt habe und eine neue sozialistische Gesellschaftsordnung geschaffen werden müsse.
Die SED trat immer entschieden gegen die staatliche Spaltung Deutschlands auf, weil sie die Perspektive einer einheitlichen Entwicklung der ganzen deutschen Nation bewahren wollte. Gerade von Walter Ulbricht gingen in dieser Hinsicht immer wieder wichtige Initiativen und Vorschläge aus, während viele westdeutsche Politiker, welche die Spaltungspolitik aktiv betrieben oder unterstützten, nach dem Motto »Haltet den Dieb!« agierten, indem sie ausgerechnet Walter Ulbricht die Verantwortung für die Spaltung anlasten wollten.
Doch konnte die Jahrzehnte währende gesellschaftliche Entwicklung in den beiden Staaten, die in der BRD zur kompletten Restauration des Imperialismus und in der DDR zur sozialistischen Gesellschaft führte, auf Dauer nicht ohne Auswirkungen auf die Nation bleiben. Während sich deren soziale Inhalte, das Netz der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Beziehungen in unterschiedlicher Richtung veränderten und damit auch die Grundlagen des nationalen Lebens umgestalteten, blieben die ethnischen Gemeinsamkeiten der Nation wie Sprache, verwandtschaftliche Bindungen, Sitten, Bräuche, Gewohnheiten, kulturelles Erbe und Traditionen weitgehend erhalten und veränderten sich nur sehr langsam. Man konnte diesen Zustand der deutschen Nation schließlich so charakterisieren, dass sie sich – ihren entscheidenden Grundlagen und Inhalten nach – auf verschiedenen Entwicklungsstufen befand, aber die ethnischen Grundlagen und Inhalte weiter große Gemeinsamkeiten aufwiesen.
Die staatliche Trennung bedeutete nicht automatisch und in kurzer Zeit auch den Zerfall der Nation. Deren weiteres Schicksal würde vielmehr vom Verlauf der historischen Entwicklung abhängen. Es zeugt auch in dieser Frage vom Realitätssinn und der Weitsicht Walter Ulbrichts, dass er voreilige und endgültige Schlussfolgerungen vermied, obwohl er die Tendenz der möglichen Entstehung zweier verschiedener deutscher Nationen mit unterschiedlichen – entweder kapitalistischen oder sozialistischen – Grundlagen und Inhalten natürlich auch erkannte. Aber da die Geschichte meist einen langen Atem hat, riet er zu Vorsicht und Zurückhaltung. Daher wurde in der neuen sozialistischen Verfassung der DDR die Formulierung gewählt: »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation.«
Nach seiner Meinung bestand offenbar noch keine Notwendigkeit, endgültige Urteile über das Schicksal der deutschen Nation in die neue Verfassung zu schreiben. Die Geschichte blieb damit für künftige Entwicklungen offen, und das ließ auch der praktischen Politik für längere Zeit einen größeren Spielraum.
Da unter den entstandenen Bedingungen mit einer längeren Koexistenz der beiden deutschen Staaten zu rechnen war und zahlreiche nationale Bindungen noch stark wirkten, hielt er es für erforderlich, Wege eines friedlichen Miteinanders zu suchen. Er schlug eine vorsichtige Annäherung durch erste offizielle Kontakte auf der Ebene der Regierungschefs vor, um die Konfrontation abzubauen. Wie wir
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