Walter Ulbricht (German Edition)
nicht begründete und weiter nicht haltbare Linie verfolgt hatte. Damit wurde aber die Vorbildrolle der KPdSU in Frage gestellt, was zu einem erheblichen Autoritätsverlust in der internationalen kommunistischen Bewegung geführt hätte.
Obwohl Walter Ulbricht in seinen Ausführungen dieses schwierige Problem völlig umging und sich jeder Polemik enthielt, waren die Implikationen natürlich klar.
Trotz aller Bemühungen, das freundschaftliche Verhältnis zur Sowjetunion weiter zu festigen – und ich bin sicher, dass diese bei Ulbricht keineswegs nur Nützlichkeitserwägungen entsprangen, sondern in seiner ganzen Haltung zur Sowjetunion wurzelten –, blieb es nicht aus, dass eine größere Distanz im Verhältnis zueinander entstand, zumal Chruschtschow, der ein Freund und Förderer der DDR war, inzwischen durch Breshnew abgelöst worden war.
Aber leider gab es auch in der Führung der SED Widerstand gegen diese Linie Ulbrichts. Eine Reihe von Mitgliedern des Politbüros war nicht imstande, die prinzipielle Bedeutung und den theoretischen Wert der Konzeption Ulbrichts zu erfassen. Daher formierte sich im Politbüro eine Fronde, die seinen Reformkurs im Grunde ablehnte und dagegen agierte, indem manche Maßnahmen verzögert, hintertrieben oder gar sabotiert wurden.
Hinzu kam, dass Ulbricht inzwischen ein betagtes Alter erreicht hatte, so dass seine Ablösung durch einen Nachfolger in absehbarer Zeit ohnehin auf der Tagesordnung stand.
Unter diesen Umständen waren es wohl nicht nur fehlende Einsicht in den Weitblick und die Richtigkeit der grundsätzlichen Überlegungen Ulbrichts, sondern auch andere Erwägungen, die den größeren Teil der Mitglieder des Politbüros veranlasste, sich von Ulbricht abzuwenden und sich nicht gegen den voraussichtlichen Nachfolger Erich Honecker zu stellen. So konnte sich Walter Ulbricht in dieser wichtigen Reformperiode meist nur auf eine schwankende Mehrheit im Politbüro stützen. Und in dem Maße wie der Zeitpunkt seines Rücktritts aus Altersgründen herannahte, schrumpfte sie auf wenige Stimmen zusammen.
Diese Meinungsunterschiede und Differenzen im Politbüro drangen damals natürlich nicht an die Öffentlichkeit, doch unser Institut für Gesellschaftswissenschaften war strukturell eine Abteilung des ZK und durch zahlreiche Fäden mit dem Apparat verbunden. Wir hatten dadurch zumindest teilweise eine Vorstellung davon, was sich auf dieser Ebene abspielte. Eingeweihte wussten durchaus, dass Erich Honecker, der von Ulbricht lange Zeit als sein potenzieller Nachfolger betrachtet wurde, weshalb er ihn auch als Leiter des Sekretariats einsetzte, zusammen mit Paul Verner und anderen entschiedene Gegner der Reformvorhaben Ulbrichts waren. Das führte dazu, dass Ulbricht irgendwann zu der Überzeugung gelangte, Honecker sei für die Funktion des Ersten Sekretärs nicht geeignet, was diese früher oder später natürlich erfuhr und darum Gegenmaßnahmen traf.
Da Ulbricht aus erklärlichen Gründen auch Breshnew durch seine unabhängigen Auffassungen und seine selbständige Politik, die Auswirkungen auf die internationale kommunistische Bewegung und vor allem auf die anderen sozialistischen Länder hatte, längst ein Dorn im Auge sein musste, war eine Konstellation der Interessenübereinstimmung zwischen Honecker und Breshnew entstanden, darauf gerichtet, den Wechsel an der Führungsspitze zu beschleunigen.
Viele von uns registrierten die Unsicherheit und mitunter auch ein gewisses Machtvakuum an verschiedenen Anzeichen, ohne zu wissen, dass eine Mehrheit des Politbüros auf Initiative Honeckers inzwischen einen Brief an Breshnew gesandt hatte, in dem sie die Ablösung Ulbrichts vorschlug und die Zustimmung zu diesem Schritt erbat. Die Würfel waren bereits gefallen, als im Dezember 1970 eine ZK-Tagung stattfand, auf der Walter Ulbricht das Hauptreferat hielt, zugleich aber auch Honecker und Stoph auftraten und manches von den Ausführungen Ulbrichts konterkarierten. Diese Tagung bedeutete die faktische Entmachtung Ulbrichts, doch geschah dies in einer Weise, dass die ZK-Mitglieder es überhaupt nicht begriffen.
Mir wurde dies klar, als kurze Zeit später Kurt Hager eine große Auswertung im ZK mit allen verantwortlichen Leitern wissenschaftlicher und kultureller Institutionen vornahm, obwohl es einen sachlichen Grund für diese Veranstaltung nicht gab. Sein langes, unkonzentriertes Referat – für ihn sehr ungewöhnlich – war mit zahlreichen Zitaten aus den Reden von Honecker
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