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Walter Ulbricht (German Edition)

Walter Ulbricht (German Edition)

Titel: Walter Ulbricht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Krenz (Hrsg.)
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sozialistische Gesellschaft effektiv noch nicht einmal in der Lage war, die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern, Ersatzteilen und Lebensmitteln kontinuierlich und zuverlässig auf einem den Zielen und Ansprüchen des Sozialismus entsprechenden Niveau zu sichern. Die Schlussfolgerung konnte nur sein, die sozialistische Gesellschaft in einer längerfristig geplanten Entwicklung als ein gesellschaftliches System in seiner Totalität zu entfalten, in dem alle Elemente auf der Grundlage seiner spezifischen Gesetzmäßigkeiten in reibungslosen Funktionskreisen miteinander zusammen wirkten und dabei stabile Triebkräfte des weiteren Fortschritts hervorbrachten.
    Dieses Gesellschaftssystem musste dafür auch eine eigenständige ökonomische, soziale und kulturelle Qualität erhalten, die weder aus einer Mischung von »Überresten des Kapitalismus« und »Keinem des Kommunismus« bestehen noch lediglich eine Nachahmung der Errungenschaften des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft sein konnte. Walter Ulbricht prägte dafür die oft belächelte oder auch verspottete Formel vom »Überholen ohne einzuholen«, deren tiefer Sinn eben darin bestand, klarzumachen, dass es nicht darum gehe, den Kapitalismus nur mit sozialistischem Vorzeichen nachzumachen, sondern prinzipiell neue Wege zu suchen und dabei stets die erforderliche neue Qualität des Sozialismus als Ziel anzusteuern.
    Als Quintessenz aller theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen ergab sich der Schluss, dass die sozialistische Gesellschaft kein kurzfristiger Übergangszustand ist, sondern als eine relativ selbständige Gesellschaftsformation von langer Dauer anzusehen sei.
    Diese grundlegende Einsicht formulierte Walter Ulbricht 1967 in einem Vortrag zum 100. Jahrestag des Erscheinens des ersten Bandes von Marx’ Hauptwerk »Das Kapital«, in dem er die Bedeutung der Marxschen Theorie für die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft herausstellte. Dies kann nicht hoch genug bewertet werden. Ich hielt das damals und halte es auch noch heute für den wichtigsten Beitrag zur Entwicklung der Theorie des Sozialismus seit Lenin. Damit war eine realistische, alle bisherigen Erfahrungen verallgemeinernde und zugleich von utopischen und illusionären Elementen befreite Konzeption gegeben, die ein solides Fundament für die Ausarbeitung der praktischen Politik zur weiteren Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft bilden konnte.
    Ich erinnere mich noch der Diskussion mit meinem Wiener Freund Walter Hollitscher, dem bekannten marxistischen Philosophen. Wir waren ganz unabhängig voneinander zu der gleichen Bewertung gekommen und stimmten darin völlig überein, wobei wir aus vielen Erwägungen zu der Auffassung gelangten, dass die sozialistische Gesellschaft durchaus noch einhundert bis einhundertfünfzig Jahre benötigen könnte, um diese große Aufgabe zu lösen.
    Aus verschiedenen Gründen stießen die Ausführungen Ulbrichts nicht überall auf Verständnis und Zustimmung, wurden damit doch einige »heilige Kühe« geschlachtet und lang gehegte Illusionen zerstört. Vor allem betraf das die von der KPdSU verbreitete Auffassung, wonach die Sowjetunion seit Stalins Erklärung auf dem XVIII. Parteitag 1939, dass die strategische Hauptaufgabe nun im Übergang zum Kommunismus bestehe, sich bereits im »Übergang zum Kommunismus« befinde. Die KPdSU versäumte es nach Stalins Tod, seine unbegründete und primitive Theorie vom Sozialismus und Kommunismus einer kritischen Analyse zu unterziehen und sich von dem damit verbundenen Voluntarismus und Illusionismus konsequent zu trennen. Stattdessen arbeitete sie auf diesem theoretischen Fundament das neue Parteiprogramm von 1961 aus und formulierte darin die Aufgabe, binnen zwanzig Jahren die kommunistische Gesellschaft zu errichten. Damit verstrickte sie sich immer tiefer in dem Netz illusionärer Vorstellungen und unrealistischer Erwartungen, aus dem sie auch später nicht mehr herauskam, denn für die Lösung dieser Aufgabe fehlten die entscheidenden objektiven Bedingungen. Der dadurch unvermeidlich entstehende tiefe Widerspruch zwischen der ständig verbreiteten Ideologie und der gesellschaftlichen Realität musste sich daher weiter verschärfen und negative Auswirkungen auf viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens haben. Aber eine Zustimmung zu den Auffassungen Walter Ulbrichts hätte zugleich das Eingeständnis bedeutet, dass die KPdSU im Hinblick auf ihr strategisches Ziel bislang eine

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