Walter Ulbricht (German Edition)
der ökonomisch weit stärkeren BRD konfrontiert – war das ein schwieriges und auch heikles Unterfangen.
Wie sollte zum Beispiel der Widerspruch zwischen der erforderlichen Entwicklung und Vertiefung der Demokratie einerseits und den berechtigten oder vermeintlichen staatlichen Sicherheitsinteressen andererseits gelöst werden?
Zwar gab es mehrere Kampagnen wie »Arbeite mit, plane mit, regiere mit«, um die Bevölkerung stärker in die Lösung staatlicher Aufgaben einzubeziehen, doch blieben diese m. E. ohne nachhaltige Wirkung. Um diesen Zustand zu ändern, wurde es notwendig, eine neue Grundlage für die engere Verbindung der Bevölkerung mit dem sozialistischen Staat zu schaffen.
Die seit 1949 geltende Verfassung war inzwischen so weit von der politischen und gesellschaftlichen Realität entfernt, dass eine neue, den sozialistischen Verhältnissen entsprechende Verfassung ausgearbeitet, mit dem Volk beraten und durch eine Volksabstimmung beschlossen werden sollte. Diesen Vorschlag betrachtete Ulbricht offenbar als ersten großen Schritt auf dem Wege zur Überwindung demokratischer Defizite und für die weitere Demokratisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens. Denn die Teilnahme großer Teile der Bevölkerung an der Diskussion um den Verfassungsentwurf führte diese in direkter Weise an alle wichtigen Staatsprobleme heran. Zudem gab es ihnen die Möglichkeit, sich dazu zu äußern und darauf auch Einfluss zu nehmen.
Walter Ulbricht hielt diesen Weg für unbedingt erforderlich und setzte selbst gegen Widerstände im Politbüro der SED durch, dass der Entwurf der neuen Verfassung in Tausenden von Versammlungen mit der Bevölkerung diskutiert und beraten wurden, dass alle kritischen Einwände und Vorschläge von der Verfassungskommission beachtet und ausgewertet wurden und die Verfassung schließlich dem Volk als Souverän in einer freien Abstimmung zur Annahme unterbreitet wurde. Gibt es in den bürgerlichen Demokratien eine Verfassung, die in dieser Weise vom Volkssouverän bestätigt wurde?
Die Tatsache, dass die Verfassung mit großer Mehrheit angenommen wurde, zeigte, dass dieser Weg richtig war und zur Beseitigung von Demokratiedefiziten beitragen konnte. Der immer wieder erhobene Einwand, dass dies keine »freie Entscheidung« gewesen sei, entbehrt jeder Grundlage und zeugt lediglich von Unwissenheit oder Voreingenommenheit, denn der Stimmzettel enthielt die Alternative Ja oder Nein, Zustimmung oder Ablehnung. Da gab es keinerlei Manipulationsmöglichkeiten.
Im Laufe der Entwicklung war Walter Ulbricht wohl auch klar geworden, dass das im Prinzip von der Sowjetunion übernommene Wahlsystem mit den von den Parteien vorher abgestimmten Kandidatenlisten unbefriedigend war und einer weiteren Demokratisierung des politischen Systems im Wege stand. Er plante daher, wie von seinen engeren Mitarbeitern berichtet wurde, diesen Prozess weiterzuführen und eine Reform der Wahlgesetze und der Wahlprozeduren vorzubereiten, damit die Bürger größere und effektivere Möglichkeiten erhielten, die Zusammensetzung der gewählten Repräsentativorgane zu bestimmen.
Von großer Bedeutung für die weitere Demokratisierung der staatlichen Verwaltungarbeit war auch die auf Walter Ulbrichts Initiative geschaffene neue Kommunalverfassung, welche den Bezirken, Kreisen und Kommunen bedeutend größere Rechte und Entscheidungskompetenzen gewährte.
In der gesamten Entwicklung der DDR spielte die nationale Problematik eine wichtige Rolle. Durch die von den Westmächten mit aktiver Unterstützung westdeutscher Kräfte bewusst herbeigeführte staatliche Spaltung waren zwei deutsche Staaten entstanden, aber die deutsche Nation zerfiel dadurch nicht sogleich in zwei Nationen. In einem viele Jahrhunderte währenden geschichtlichen Prozess war sie nach langen Kämpfen gegen die feudale Zersplitterung Deutschlands schließlich als eine große bürgerliche Nation geeint worden. Sie verband die deutsche Bevölkerung durch ein dichtes Netz ökonomischer Beziehungen, durch relativ gleichartige soziale Strukturen, durch ein allmählich sich festigendes Nationalbewusstsein, durch die gemeinsame Sprache und Kultur, durch die tradierten Sitten, Bräuche und Gewohnheiten zu einer relativ einheitlichen Gemeinschaft, die als geschichtliche Entwicklungsform der Gesellschaft wirkte. Grundlegende ökonomische, soziale und ideologische Bindungen der kapitalistischen Gesellschaft vereinigten sich mit den ethnischen Eigenarten der Menschen und
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