Walter Ulbricht (German Edition)
Oberbaumbrücke zu kommen. Von der Gegenseite schritt ein US-Major in Begleitung von Nuschke herüber, im Gefolge ein Pressepulk, und fragte, ob ich autorisiert sei, Mr. Nuschke in Empfang zu nehmen, was ich bejahte. Dann musste ich schriftlich quittieren, dass ich als Generalsekretär der CDU den Vorsitzenden der CDU übernommen habe. Wir fuhren dann in meinem Wagen in die Jägerstraße, wo er erst einmal ordentlich frühstückte.
Es wird behauptet, Nuschke sei gar nicht verschleppt worden, sondern freiwillig nach Westberlin gefahren.
Das ist Unsinn. Hätte er dann im Rundfunk gegen seine Entführung protestiert und seine Rückführung in die DDR verlangt? Seine Frau war gerade zum Mittagessen bei uns – wir lebten damals in einer Wohnung im Parteivorstand in der Jägerstraße –, als das Rundfunkinterview lief. Nein, es bestand kein Zweifel, dass Nuschke unbedingt wieder in die DDR zurückwollte.
Nuschke genoss in der sowjetischen Führung hohes Ansehen?
Das kann man so sagen. Ich erinnere mich an den 23. Februar 1956, an Otto Nuschkes 73. Geburstag. Er war in Barwycha bei Moskau zur Kur, und es kamen nicht nur Ulbricht und andere deutsche Genossen, die gerade zum XX. Parteitag in der Stadt weilten, zum Gratulieren ins Sanatorium, sondern auch namhafte KPdSU-Funktionäre, wie ich damals erfreut feststellte. Zwei Tage später, nach dem Ende des Parteitages, gaben die Sowjets zu Ehren des Stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten abends einen Empfang. Die Stimmung war gedrückt, Chruschtschow hatte seine Geheimrede gehalten, wovon wir aber nichts wussten. Aber atmosphärisch war zu spüren, dass irgendetwas nicht stimmte. Vizepremier Anastas Mikojan würdigte Vizepremier Otto Nuschke mit einer warmherzigen, anrührenden Ansprache, die auch auf das politische Verhältnis zwischen der UdSSR und der DDR einging. Danach erhob sich Außenminister Wjatscheslaw Molotow und erkläre, das wäre die erste anständige Rede gewesen, die er heute gehört habe … Erst später wurde mir klar, was er damit gemeint hatte.
Wie hat man in der CDU die territorialen Veränderungen, die neuen Grenzen, etwa die Oder-Neiße-Grenze zu Polen, diskutiert?
Die Partei war gespalten. Aber dass das CDU-Mitglied Georg Dertinger als Außenminister die von Ulbricht und Cyrankiewicz in Warschau am 5./6. Juni 1950 ausgehandelte Deklaration über den Grenzverlauf vier Wochen später als »Görlitzer Abkommen« unterzeichnete, trug zur innerparteilichen Klärung bei. Ich habe in Wroclaw auf Einladung der Pax Christi vor polnischen katholischen Priestern dazu gesprochen.
Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR wurde uns im Westen zum Vorwurf gemacht. Adenauer nahm wiederholt dazu Stellung, am 6. Oktober 1951 erklärte er in Berlin namens der Bundesregierung: »Das Land jenseits der Oder-Neiße gehört für uns zu Deutschland.« Drei Tage später stieß SPD-Chef Kurt Schumacher in das gleiche revanchistische Horn: »Die Sozialdemokratie als die Partei, die schon 1945 als erste Partei den unverzichtbaren Anspruch auf die Wiedervereinigung mit diesen Gebieten erhoben hat, begrüßt es, dass die amtliche deutsche Außenpolitik sich zu diesem Ziel bekennt.« Und Berlins Regierender Bürgermeister Ernst Reuter (SPD) sekundierte: »Nicht nur Berlin, Bonn und Stuttgart, auch Leipzig und Dresden, Breslau, Stettin und Königsberg gehören zu Deutschland. Was man uns gestohlen hat, wird man wieder herausgeben müssen.« 6
Tatsache ist: Ohne die Anerkennung des zwischen der DDR und Polen 1950 geschlossenen Grenzvertrages wäre von den Alliierten 1990 keine Zustimmung zur deutschen Einheit erteilt worden. Im 2+4-Vertrag wurde diese völkerrechtlich verbindliche Regelung der DDR aufgenommen. Die DDR hat maßgeblich zur Versöhnung mit dem polnischen Volk beigetragen, was heute ignoriert wird.
Hattest du Einfluss auf Ulbricht oder er auf dich?
Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen. In diesem Zusammenhang nur zwei kleine Beispiele: Bei Einführung der Wehrpflicht 1962 habe ich mit Ulbricht darüber gesprochen, dass auch für Menschen, die aus christlicher Überzeugung den Dienst mit der Waffe ablehnen, die Möglichkeit gegeben sein sollte, dass sie nicht gegen dieses Gesetz verstoßen müssten, wenn sie ihrem Glauben folgten. In der Folge entstand die Institution der »Bausoldaten«. Die ersten Einheiten habe ich kurze Zeit später in Neubrandenburg besucht.
Ein andermal war ich bei Ulbricht und sprach mit ihm darüber, ob nicht trotz der
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