Walter Ulbricht (German Edition)
Staatsrates war aber die konsequente Fortsetzung der Politik des Demokratischen Blocks. 1960 begann unter Ulbricht eine neue demokratische Entwicklung. Alle Parteien und auch die parteilosen Bürger waren zur Mitarbeit eingeladen. Wir hatten auch das Recht, Gesetzentwürf einzubringen. Als erster Mann der führenden Partei respektierte Ulbricht die unterschiedlichen Meinungen von CDU, der DBD, der LDPD und der NDPD. Er schlug darum vor, dass deren Repräsentanten Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden wurden.
War das nicht eine formale Frage?
Keineswegs. Wir hatten tatsächlich Einfluss und waren keine »Blockflöten«, wie wir später abwertend genannt wurden. Als Ulbricht einmal nicht selbst an einer Staatsratssitzung teilnehmen konnte, beauftragte er mich, die Sitzung zu leiten – er hätte auch einen Stellvertreter der SED nehmen können. Als Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann (LDPD) 1969 verstarb und diese Funktion neu besetzt werden musste, lud er die Vorsitzenden der Blockparteien ein, um die Nachfolge zu besprechen. Alle gingen davon aus, dass Manfred Gerlach, der LDPD-Vorsitzende, es sein würde. Doch zum allgemeinen Erstaunen erklärte Ulbricht, das Amt sei kein Erbhof, und schlug mich vor.
Wie hast du diese Votum aufgefasst? Warst du erschrocken, erfreut, verunsichert?
Von allem etwas. Auf der anderen Seite: Warum sollte ich nicht über meinen Schatten springen können? Ulbricht vermochte es doch auch. Da gab es beispielsweise diese Präsentation der NVA-Uniformen. Mir und vielen meiner Parteifreunde fiel es schwer, uns überhaupt mit der Bildung nationaler Streitkräfte anzufreunden, doch Ulbricht vermochte uns von der Notwendigkeit zu überzeugen. Und nachdem wir das geschluckt hatten, führte er uns in einen Raum, in dem die Uniformen gezeigt wurden. O Gott, entfuhr es mir laut, die sehen ja aus wie Wehrmacht! Darauf Ulbricht: Wären Ihnen russische Uniformen lieber? – Betretenes Schweigen ringsum. Der Mann, der an der Seite der Roten Armee gegen die faschistische Armee gekämpft hatte, der ein Internationalist war, war zugleich deutscher, als es ihm viele zugetraut hatten.
Du hast mit deiner Familie im Gästehaus des Ministerrats in Dierhagen auf dem Darß gelegentlich Urlaub gemacht. Waren da auch die Ulbrichts?
Ja. Die bewegten sich völlig normal, liefen am Strand und unterhielten sich mit den Leuten.
Angela Merkel meint sich zu erinnern, dass der Strand abgesperrt war.
Unsinn. Der war offen für alle, da gab es keine Absperrungen. Die sowjetische Volksbildungsministerin Jekaterina Furzewa kam einmal gleichermaßen verunsichert wie entrüstet zu meiner Frau und mir und empörte sich darüber, dass sie am Strand gelaufen sei und plötzlich auf viele nackte Menschen gestoßen wäre. Da müsse man etwas unternehmen, das wäre doch verboten, sich in der Öffentlichkeit zu entblößen. Nein, beruhigten wir sie, in der DDR sei das erlaubt, dass sich die Menschen zeigten, wie der Herrgott sie geschaffen habe. Das heiße FKK, Freikörperkultur, und sei ganz normal. Sie verstand das nicht. Walter und Lotte sind dort vorbeimarschiert, das hat sie nicht gestört.
Da wir schon von der jetzigen CDU-Vorsitzenden sprechen: Sie unternahm Vorstöße, die Geschichte der Ost-CDU in die Geschichte der West-CDU zu integrieren.
Es gab diesbezüglich Anfragen aus der Konrad-Adenauer-Stiftung bei mir, sie wollte meinen Nachlass haben. Aber da man, wie mir schien, sehr selektiv damit umzugehen gedachten, habe ich meine Unterlagen lieber ans Landesarchiv in Halle gegeben.
Wann hast du Walter zum letzten Mal gesehen und gesprochen?
Das war nach diesem furchtbaren Unfall, als im Sommer 1972 die IL-62 bei Königs Wusterhausen abstürzte. Ich hielt die Rede für die 156 Opfer und drückte ihm bei der Trauerfeier die Hand. Dass wir uns nicht wiedersehen sollten, ahnte damals niemand von uns. Ulbrichts Tod hat mich erschüttert. Es war nicht nur ein Verlust für die DDR. Ich verlor auch einen verlässlichen politischen Freund. Er hatte meine christliche Weltanschauung respektiert. Ulbricht sah die Gemeinsamkeiten von Marxisten und Christen und tat viel dafür, dass dies im Alltag erfahrbar war.
1 Legationsrat Tömmler war ein Vertreter der deutschen Botschaft in St. Petersburg vor dem Ersten Weltkrieg und engagierte sich auch später für die Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrussland, wofür ihm Lenin persönlich dankte. In Nachkriegsdeutschland führte er für die Sowjetische
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