Walter Ulbricht (German Edition)
mehr die Kunst des Möglichen, sondern die Wissenschaft vom Notwendigen.« Der Politiker – Walter Ulbricht, damals Vorsitzender des Staatsrates – zitierte den Satz sympathisierend. 1
Offenbar nervte die beiden etwas, womit auf Gesellschaftsfortschritt erpichte Menschen sich häufig konfrontiert sehen. Im Verhältnis zu dem, was getan werden müsste, um Frieden zwischen den Völkern und Staaten, soziale Gerechtigkeit und ökologisch verantwortungsbewussten Umgang mit Naturressourcen zu sichern, ist die Bereitschaft, entsprechend zu handeln, zu gering. Es versteht sich, dass Steenbeck wie Ulbricht bewusst war: Das profitorientierte Wirtschaften in Ländern der Kapitalmacht, das Agieren der diese Macht stützenden Verbände, Parteien, Parlamente und Regierungen tragen die ursächliche Hauptverantwortung für die das jetzige und künftige Leben auf der Erde bedrohenden Versäumnisse. Sie erkannten aber auch, dass in den Ländern, die eigentlich angetreten waren, aus dem alten System auszubrechen, die bürokratischen Fesseln der Wirtschaftsabläufe und der Gesellschaftsentwicklung an den Versäumnissen beteiligt waren, und zwar nicht irgendwie, sondern ebenfalls ursächlich. Da herauszukommen, strebten sie an. In der praktischen Politik seit Beginn der 60er Jahre durch ein zentralistische Starre überwindendes neues ökonomisches System der Planung und Leitung. Diese Bemühungen wurden jedoch Ende des Jahrzehnts mehr und mehr gebremst.
So kann man sich fragen: Handelte es sich bei Steenbecks und Ulbrichts in eben dieser Zeit gesprochenen Worten über die Wissenschaft vom Notwendigen um Gegenwehr gegen das Bremsen? War die Politologie-Meditation eine Art theoretischer Begleittext zu diesen Vorgängen?
Die weiterreichenden Fragen lauten: Was konnte in der konkreten Situation und was könnte überhaupt mit der ins Auge gefassten Neubestimmung des Politikbegriffs erreicht werden? Der wissenschaftlichen Erforschung des Notwendigen als Politikbestandteil größere Aufmerksamkeit zu widmen, war ein vernünftiger Ansatz. Aber bei der Gelegenheit ausgerechnet den Bezug aufs Mögliche im Politikverständnis zu tilgen und auf Kunst als Element des Politikmachens verzichten zu wollen, ist in beiden Aspekten ein Irrtum. Denn: Musste und muss nicht gerade die dank wissenschaftlicher Erforschung erwerbbare gründlichere Kenntnis dessen, was notwendig ist, umso größeres Interesse für das Verhältnis von Notwendigem und Möglichem wecken, stärkere Anstrengungen für das Aufdecken realer Möglichkeiten auslösen und das vielgestaltige Ringen für deren Umwandlung in die Wirklichkeit geradezu beflügeln?
Könnte es sein, dass Genosse Ulbricht, der Lenin noch persönlich kannte, angesichts des ihm imponierenden Satzes von Steenbeck Lenin einen Augenblick vergessen hat? In Lenins Buch über den linken Radikalismus findet sich eine Erläuterung, die er den britischen Genossen W. Gallacher aus Glasgow, den Ulbricht ebenfalls kannte, in Sachen Politik zu bedenken bat, nämlich: »dass Politik eine Wissenschaft und Kunst ist, die nicht vom Himmel fällt, die einem nicht in die Wiege gelegt wird, und dass das Proletariat, wenn es die Bourgeoisie besiegen will, seine eigenen, proletarischen ›Klassenpolitiker‹ hervorbringen muss, und zwar Politiker, die nicht schlechter sein dürfen als die bürgerlichen Politiker.« 2
Nicht schlechter? Also besser, sagen wir uns da. Schöpferischer Einfallsreichtum gehört dazu, Fantasie für Varianten und Alternativen, spontanes Reaktionsvermögen im Umgang mit Gegebenheiten und Gelegenheiten, Gespür für Stimmungen und Kräfteverhältnisse, einleuchtende Überzeugungskraft, in der nicht zuletzt Sinn für Nuancen zum Zuge kommt, Nuancen in Mentalitäten und Charakteren, Nuancen in Farben, Worten, Tönen und Tonlagen – ein hoher Anteil des Informationsgehalts einer Aussage liegt bekanntlich in der Intonation des Gesagten bzw. zu Sagenden. Vertraute und Verbündete zu gewinnen und mit ihnen etwas als notwendig Erkanntes in Bewegung zu bringen, kann so gut gelingen. Über die zwischen künstlerischem Wirken und politischem Handeln bestehenden Unterschiede, die mit Sorgfalt zu beachten sind, sollten Sozialistinnen und Sozialisten die Ähnlichkeiten der Arbeit in der Politik und in der Kunst nicht gering veranschlagen, sondern als produktive Wechselbeziehung gestalten.
Tiefe demokratische und sozialistische Überzeugungen sowie Mut und Beherztheit, sie zu vertreten, sie selber zu leben,
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