Walter Ulbricht (German Edition)
Brigitte Reimann und anderen das Jugendkommuniqué »Der Jugend Vertrauen und Verantwortung«, welches die Parteiführung 1963 einstimmig akzeptierte. In jenem Jahr, auf dem VI. Parteitag der SED, war auch das Reformkonzept der sozialistischen Gesellschaft unter der Bezeichnung »Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung« beschlossen worden. Dies fand in Moskau nach dem dort 1964 erfolgten Machtwechsel keine Zustimmung mehr. Im Unterschied zu Chruschtschow duldete dessen Nachfolger Breshnew keine Korrekturen am sowjetischen Sozialismusmodell.
Auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 erfolgte die erste massive Kritik an diesem Kurs. Wortführer war Erich Honecker, assistiert von Paul Verner, 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin und Mitglied des Politbüros. Die Vorhaltungen an die Adresse Turbas galten Ulbricht. Man prügelte den Sack, meinte aber den Esel. Mit der Abberufung Turbas sollte Ulbrichts Autorität untergraben werden. Beide, Honecker wie Verner, waren Ulbricht nicht gewachsen, aber als seine Schüler hatten sie gelernt, wie man um die Macht kämpft. 1970 waren sie dem greisen Ulbricht dann überlegen.
Auf der 11. Tagung trat Honecker eine Auseinandersetzung mit der Kulturpolitik und die Korrektur der mit Turba verbundenen Jugendpolitik los, es begann der Widerstand gegen die Neue Ökonomische Politik. Übel ist in diesem Zusammenhang die Rolle Günter Mittags. Er hatte, gemeinsam mit Erich Apel, federführend an der Ausarbeitung des NÖS mitgewirkt und dabei seine Macht gestärkt. Als sich das innere Kräfteverhältnis änderte und der Sturz Ulbrichts spruchreif war, stahl er sich in das Vertrauen Honeckers, welches ihm bis 1989 erhalten bleiben sollte.
Im Sommer 1966 sprach Erich Honecker als Kadersekretär des ZK mit mir über einen Einsatz als Wirtschaftssekretär im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Ich war grundsätzlich bereit, diesem Parteiauftrag zu folgen. Als Ulbricht aber davon erfuhr, lehnte er meinen Einsatz in Sachsen mit dem Argument ab, dass es der Berliner Parteiführung schwerfalle, Vertrauen nach innen wie nach außen zu gewinnen. Modrow sei einer, dem man vertraue. Deshalb bleibe er hier, in Berlin.
Das Problem mangelnder Akzeptanz (oder Vertrauens) war schon unter den Bedingungen der offenen Grenze insbesondere in Westberlin zu beobachten. Wiederholt, mindestens ein halbes Dutzend Mal, lud Ulbricht den Nachfolger Alfred Neumanns an der Spitze der Berliner Parteiorganisation, Hans Kiefert, mit dem Büro der Bezirksleitung ins Politbüro. Dabei begleitete ich ihn. Die Wirkung der SED in Westberlin war gering, im Ostteil ging es auch nicht so recht voran. Hans Kiefert mühte sich redlich, war jedoch mit seiner Aufgabe überfordert. Der Druck wuchs. Ulbricht sah das und sorgte behutsam dafür, das Kiefert 1963 als Stadtrat für Arbeit in den Magistrat wechseln konnte, ohne Schimpf und Schande, wie das üblicherweise geschah, wenn ein hoher Parteifunktionär seines Amtes verlustig ging. Ulbricht bestimmte Paul Verner zu Kieferts Nachfolger. Dieser sollte sich alsbald mit Honecker verbünden und war kein Mann Ulbrichts mehr.
Nachdem Ulbricht als Erster Sekretär zurückgetreten worden war, blieb er aber noch Vorsitzender des Staatsrates. Zu dessen Aufgaben gehörte die Akkreditierung und Verabschiedung von Diplomaten. Bislang wurde dies von der Nachrichtenagentur ADN stets mit einer Bildnachricht vermeldet. Honecker ordnete an, dass dies künftig zu unterbleiben habe. Lotte Ulbricht bemerkte dies natürlich und rief bei ADN an, wo man ausweichend reagierte. Dann rief sie beim zuständigen Abteilungsleiter im ZK an. Das war ich. »Hans, sorg doch bitte dafür, dass das wie gewohnt vermeldet wird.« Nun, die Aufhebung der Order konnte ich so wenig entscheiden wie ich sie verfügt hatte. Ich informierte meinen Chef Werner Lamberz und dieser Honecker, da eine Meldung bei einer konkreten Nachfrage nicht zu vermeiden war. Honecker erfand daraufhin die Funktion des »amtierenden Staatsratsvorsitzenden«, die die Verfassung nicht vorsah. Aber Friedrich Ebert, Sohn des einstigen Reichskanzlers gleichen Namens, übernahm gern die Rolle des Staatsoberhauptes, schon wegen der Kontinuität. Fortan empfing er die Botschafter. So wurde ein neuerlicher Anruf von Lotte Ulbricht überflüssig.
Ich erlebte Walter Ulbricht als einen Politiker, zu dem die Widersprüche gehörten, die in seiner Generation kommunistischer Politiker und Funktionäre ausgeprägt waren. Dennoch gehört er für mich
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