Walter Ulbricht (German Edition)
verkündet werde. Dort war nach einem zunächst vereinbarten Ende des Streiks ein zweiter Streik gestartet worden.
In der brenzligen Situation um Buna und das benachbarte Leuna-Werk entstanden unterschiedliche Vorstellungen für das Handeln. Einige neigten dazu, der massierten Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen. Es war von großer Bedeutung, dass Walter Ulbricht sich entschied, selber in die Leuna-Werke zu fahren und dort an der Klärung der Ursachen und am Finden von Auswegen teilzunehmen. Für seinen Beitrag zur Diskussion, seinen Anteil an der Zwiesprache zwischen Belegschaftsangehörigen und leitenden Genossen war zweierlei charakteristisch: 1. Kritische Betrachtung, ja Verurteilung mangelnder Beachtung von Arbeiterinteressen; 2. Ablehnung von Versuchen, die Auseinandersetzung mit falschen Methoden der Leitung von Arbeitsprozessen im Betrieb in eine Ablehnung der sozialistischen Staatlichkeit in der DDR münden zu lassen. Die Kombination dieser zwei Positionen half nun sehr bei der journalistischen Auswertung von Zusammenkünften dieser Art in der Zeitung: frei von Schönfärberei und Verharmlosung und frei von sektiererischer Zuspitzung und Verschärfung der Konflikte.
Aus der Jugendarbeit in Leipzig 1963 eine Episode, die vielen in Erinnerung geblieben ist – wegen ihrer Eigenart: Eine Jugendkundgebung mit Walter Ulbricht in der Kongresshalle des Leipziger Zoos war angesagt. Jugendliche, die um Diskussionsbeiträge gebeten worden waren, lud ich ein, einige Stunden vor Beginn der Veranstaltung in die FDJ-Bezirksleitung zu mir zu kommen. Und da bat ich sie, ihre doch sicher mit FDJ- und Parteisekretären abgestimmten Texte nicht mit in die Kongresshalle zu nehmen. Ich gab einer jeden und einem jeden von ihnen Papier und Schreibgerät (sofern sie kein eigenes dabei hatten), ließ sie ungestört stichwortartige Notizen machen und sammelte die vorgefertigten »Ablese-Reden« ein. Gemeinsam mit Kurt Turba gelang es, Ulbricht für die Idee zu gewinnen, erst die Jugendlichen reden zu lassen, auf dass er zu dem von ihnen Gesagten Stellung nehmen konnte.
Es wurde, wie man in den von der Jungen Welt dokumentierten Reden nachlesen kann, ein Abend geistiger Munterkeit junger Leute in der Politik, in welcher der Mann von der Spitze des Staates mit dem, was er zu sagen hatte, wacker mithalten konnte. Ulbricht war nicht zimperlich. Er drängte auf hohes Können im Beruf und auf Neugier in der Aneignung von Wissen über die gesellschaftliche Entwicklung, auf Aktivität im eigenen Wirken einer jeden und eines jeden für Fortschritt in dieser Entwicklung. Er polemisierte gegen die damals in Mode gekommene Neigung in der politischen Bildung, Werke von Klassikern der marxistischen Weltanalyse in »Proben« zu »studieren«, die in Sammelbänden auszugsweise geboten wurden. Er drängte darauf, solche Werke im Original und in Gänze zu lesen und zu diskutieren. Und was das berufliche Können anging, plädierte er dafür, nach höchster Qualität zu streben, auf dass die Formel von der deutschen Wertarbeit wieder volle Gültigkeit bekäme. Zur Freude der meisten im Saal gab er zu verstehen, dass er auf der Seite derer steht, die Musik und Tanz für eine Bereicherung kultureller Vielfalt halten statt sie mit verklemmter Strenge missgelaunt zu hören und die Tanzenden missmutig, ja misstrauisch zu beäugen.
Politik ist die Kunst des Möglichen, soll Bismarck gesagt haben. Tatsächlich sind Äußerungen von ihm überliefert, die auf diese Aussage hinauslaufen. Bei Poschinger findet sich in den »Tischgesprächen« die auf den 11. August 1867 datierte Bemerkung: »Die Politik ist die Lehre vom Möglichen.« Und Mitte des Jahres 1897 formulierte Poschingers Tischgesprächspartner den Satz: »Politik ist weniger Wissenschaft als Kunst.«
Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts erwogen ein einflussreicher Physiker und ein nicht minder einflussreicher Politiker unseres Landes, der DDR, das geläufige Bismarck-Wort – ohne es mit Urheberangabe zu zitieren – infrage zu stellen. Angesichts der sich wandelnden Gefährdungen und Erfordernisse der Menschheitsentwicklung und im Interesse eines spürbaren Voranschreitens von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur im eigenen Staat, hielten sie es für an der Zeit, das Politische in seiner Rolle im gesellschaftlichen Leben in veränderter Weise zu begreifen. Der Physiker – Professor Dr. Max Steenbeck, damals Vorsitzender des Forschungsrats – sagte: »Die Politik ist heute nicht
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