Walter Ulbricht (German Edition)
vor allem der Jugendpresse, auf Leute aus der Praxis und auf ausgewählte Jugendfunktionäre wie etwa Horst Schumann und auch mich. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung über die weitreichenden Absichten und Vorstellungen von Walter Ulbricht. Sie hingen mit der Ausarbeitung und Einführung des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung zusammen. Die Jugend hielt er für besonders aufgeschlossen, dieses Reformkonzept zu verwirklichen. Es bedurfte dafür aber eines neuen Stils in der Jugendarbeit, eines höheren geistigen Niveaus, des Erwerbs der erforderlichen Fachkenntnisse und anwendbaren Wissens, Erfindergeistes, der Überwindung von Dogmatismus und Formalismus. Und natürlich einer festen Verbundenheit der gesamten Jugend zum sozialistischen Vaterland und seiner Perspektive. Von Kurt Turba, den ich aus gemeinsamer Arbeit im FDJ-Zentralrat gut kannte, weiß ich, dass er bei der Ausarbeitung des Entwurfs großen Rückhalt bei Walter Ulbricht hatte, in engem Kontakt mit ihm stand und von ihm ermuntert wurde. So entstand das Jugendkommuniqué, das sich von bisherigen Beschlüssen zur Jugend in Sprache und Stil deutlich unterschied und sich direkt an die Jugend wandte.
Du hast 1963 auf der Kundgebung der Berliner Jugend im Zentralen Klub der Jugend und Sportler in der Sporthalle an der Karl-Marx-Allee die Eröffnungsrede gehalten, auf der Walter Ulbricht das Jugendkommuniqué begründete.
Ja, dort herrschte eine tolle Stimmung. Mehrere Tausend Jugendliche drängten in die Halle, und Walter Ulbricht begann seine Rede mit der Frage, ob die Jugendlichen das Jugendkommuniqué wie er prima fänden. Das Echo war ein begeistertes »Ja«.
Er bezeichnete das Dokument in seiner Rede als klar und zielbewusst. Die Partei kenne die Probleme der Jugend und würde sie anpacken. Er betonte mehrfach, die Jugend müsse selbständig denken und schöpferisch arbeiten lernen und sich den sozialistischen Standpunkt selbst aneignen, denn ihr, so zitierte er das Kommuniqué, »werdet in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts die Herren im Hause sein«. Zugleich verband er das immer mit der Verantwortung, die die Jugend heute übernehmen müsse.
Bezugnehmend auf das in Vorbereitung befindliche Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft forderte er dazu auf, die »objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung« kennenzulernen, sie auszunutzen und anzuwenden. Wiederholt berief sich Ulbricht auf Beispiele, wie junge Leute ums »Weltniveau« kämpften und technische Neuerungen hervorbrachten, wie sie als »Kapitäne« große Wirtschaftseinheiten erfolgreich führten und in Jugendbrigaden an der Spitze im Wettbewerb stünden.
Zugleich enthielt seine Rede viele kritische Töne. So polemisierte er gegen »Reste des Dogmatismus« und »seelenloses Administrieren«. Das müsse überwunden werden.
Wiederholt wich er vom vorbereiteten Konzept ab, um auf Fragen zu antworten. So wurde die Rede länger und länger. Für eine Kundgebung zu lang. Am Schluss seiner Ausführungen horchten jedoch noch einmal alle auf, als sich der schon 70-jährige Ulbricht mit der merkwürdigen Bezeichnung bestimmter junger Leute als »Halbstarke« auseinandersetzte. Berliner sagten über solche Jugendliche schnoddrig: »aufn Putz hau’n und nischt in der Birne«. Doch es steckte mehr dahinter. So wurden oftmals Jugendliche abwertend benannt, die in ihrer Lebensweise von der Norm abwichen, sich aufmüpfig und rebellisch verhielten und mit denen es Schwierigkeiten gab. Dahinter verbarg sich eine Facette des Generationenkonflikts. Durch ihre Abstemplung wurde der Zugang zu diesen Jugendlichen erschwert, mitunter verbaut. Ulbricht meinte dazu: »Wir kennen dieses Wort nicht, wir kennen keine Jugendlichen dieses Charakters, wir kennen nur Jugendliche und die Pflicht …, ihnen zu helfen, sich zu entwickeln und vorwärtszukommen.« Das sei die Hauptsache.
Einige Zeithistoriker und Zeitzeugen sind heute der Meinung, Ulbricht wäre mit seinen Ideen zur Jugendpolitik auf Widerstand im Politbüro gestoßen. Sie suggerieren, dass eine Fraktion im Politbüro den Geist des Jugendkommuniqués verwässert habe, und sehen einen Zusammenhang zwischen dem Scheitern des Neuen Ökonomischen Systems und der Jugendpolitik. Ist diese Wahrnehmung begründet oder ist sie nicht vielmehr eine nachträgliche Deutung?
Solange ich mit der Jugendpolitik befasst war, kenne ich unterschiedliche Meinungen und Vorstellungen darüber, wie junge
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