Walter Ulbricht (German Edition)
ist immer wieder zu hören. Wenn schon das Gesellschaftssystem des untergegangenen europäischen Sozialismus mit dem Namen einer Person definiert werden soll – ohnehin ein singulärer Fall in der Historiografie –, warum dann gerade der Name Stalins? Und nicht der von Marx? Weil dann nämlich »Stalinismus« als antisozialistischer Kampfbegriff verloren ginge.
Eberhard Fensch
Das Neue Ökonomische System und die journalistische Arbeit
Eberhard Fensch, Jahrgang 1929, Jornalistikstudium, 1953 Betriebszeitungsredakteur auf der Mathias-Thesen-Werft in Wismar, 1956 Sender Rostock, 1961 Radio DDR , 1968 Mitarbeiter der von Werner Lamberz geleiteten Abteilung Agitation des ZK der SED. Als Stellvertretender Abteilungsleiter zuständig für das Fernsehen und den Hörfunk der DDR. Eberhard Fensch lebt seit den 90er Jahren auf Usedom.
M eine erste persönliche Begegnung mit Walter Ulbricht hatte ich 1963, also vor etwa fünfzig Jahren. Deshalb kann ich mich auch nicht mehr an das Datum erinnern, aber wohl an die Atmosphäre, in der unser Gespräch stattfand.
Ich war damals Leiter der Wirtschaftsredaktion von Radio DDR , also in einer Funktion, in der ich mit dem Staatsoberhaupt der DDR, außer bei dessen Messerundgängen in Leipzig und dort auch nur im Begleitertross, nicht in Kontakt kam. So war ich denn auch überrascht, als ich eines Tages eine Einladung zu einem Treffen mit Walter Ulbricht im ZK der SED erhielt – zu einem »Gedankenaustausch über aktuelle Wirtschaftsfragen«, wie ich las. Schon dies war ungewöhnlich, denn an eine direkte Aussprache mit ihm konnte sich keiner der etwa fünfzehn Berufskollegen verschiedener Medien, die gleich mir eine Einladung bekommen hatten, erinnern.
Anders, als ich vermutete, ging es bei diesem Treffen denn auch zu. Keine Spur von Protokoll oder Distanz. Und ich erlebte, im Gegensatz zu seinem Image, einen ausgesprochen lockeren und aufgeräumten Walter Ulbricht. Er sagte, er wolle uns zunächst über eine bevorstehende grundlegende Weichenstellung in der Wirtschaftspolitik der Partei informieren, über das Projekt eines Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft der DDR. Zwar habe sich die Planwirtschaft, insbesondere die Gesamtplanung der volkswirtschaftlichen Prozesse, grundsätzlich bewährt, es sei aber den Betrieben viel zu wenig Eigenverantwortung und Entscheidungsbefugnis eingeräumt worden. Das vor allem solle verändert werden, denn vor Ort entscheide es sich nun mal besser als fernab an zentraler Stelle.
Auch müsse die Tonnenideologie überwunden und durch eine stärkere Orientierung auf die Effizienz der Arbeit ersetzt werden. Nicht die Menge, schon gar nicht die allein, sei die entscheidende Kennziffer, sondern die Arbeitsproduktivität.
Diesen Geist auf allen Ebenen des wirtschaftlichen Lebens – von der Brigade bis in die Ministerien und in die Staatliche Plankommission – durchzusetzen sei jetzt die wichtigste Aufgabe in der politischen Arbeit der Partei und natürlich auch der Medien. Dafür wolle er uns gewinnen, das sei sein Anliegen bei dieser Beratung, und er forderte uns auf, dazu ungeschminkt unsere Meinung zu sagen.
Damit aber rannte er bei uns Journalisten offene Türen ein, denn wir waren ja ständig in den Betrieben unterwegs, wussten also, wie überfällig ein Kurswechsel hin zu mehr Produktivität und Selbständigkeit der Betriebe war. So gab es denn von uns auch nur Zustimmung, angereichert mit konkreten Beispielen und Belegen für die Richtigkeit der beabsichtigten Maßnahmen.
Auch ich meldete mich zu Wort. Das hieße aber auch, sagte ich, dass öffentliche Kritik an falschem Verhalten für uns Journalisten nicht länger tabu sein dürfe, wenn unser Wirken Nutzen bringen solle.
Zu meiner Überraschung bejahte Ulbricht dies ausdrücklich und öffnete uns damit zumindest eine Zeitlang mehr Spielräume für einen wirksamen Wirtschaftsjournalismus. Was allerdings wieder endete, als Anfang der 70er Jahre mit dem Ausscheiden Walter Ulbrichts aus der aktiven Politik zu meinem großen Bedauern auch das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung nicht mehr fortgeführt wurde.
Unabhängig davon aber war diese Beratung für uns Journalisten außerordentlich anregend und inspirierte unsere Redaktion zu einer ganzen Reihe von neuen Sendeformen. So zu der Aktion »Aus dem Groschen die Mark«, eine Reportagereihe zur Effektivitätsproblematik mit ausgesprochen kritischen Beiträgen, Dokumentationen wie »Ist
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