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Walter Ulbricht (German Edition)

Walter Ulbricht (German Edition)

Titel: Walter Ulbricht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Egon Krenz (Hrsg.)
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verlasse niemand – es sei denn über meine Leiche! Dann habe ich mich vors Werktor gestellt.
    In dem Moment fuhren sowjetische Panzer vor. Ein Offizier rief auf Deutsch, was hier los sei. (Später erfuhr ich, dass die Belegschaften des Funkwerkes und des VEB Schwermaschinenbaus bereits auf der Straße marschierten.) Der Russe forderte mich auf mitzukommen, um angeblich die Lage mit mir zu besprechen. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass ich erstens die Sache im Griff habe, und zweitens, dass das falsch verstanden werden könnte, wenn sie mich mitnehmen würden. Der Offizier ließ sich jedoch nicht irritieren und brachte mich zur Kommandantur. Dort wurde ich befragt, wie ich die Lage einschätze. Die Leute seien vernünftig, versuchte ich ihnen begreiflich zu machen, man müsse nur ordentlich mit ihnen reden. Darum sollten sie mich besser gehen lassen.
    Inzwischen aber forderten die Arbeiter in meinem Betrieb nicht mehr, dass Ulbricht und die Regierung wegmüsse, sondern dass die Russen ihren angeblich verhafteten Werkleiter Weiz freilassen sollten. Da merkten die Sowjets auch, dass sie einen Fehler begangen hatten und brachten mich zurück. Auf dem Werkhof wurde ich mit Beifall wie ein Held begrüßt. Ich bedankte mich und wiederholte meine Bitte: Geht an die Arbeit! Wenn wir besser leben wollen, geht das nur mit ordentlicher Arbeit. Das verstanden sie und nahmen die Arbeit wieder auf.
    Wie erklärst du dir die massive Ablehnung von Ulbricht damals?
    Ich glaube, dass das in erster Linie die Folge massiver Hetze aus dem Westen war. Ulbricht war ein sehr kluger, weitdenkender Politiker, ich habe ihn persönlich sehr geschätzt. Aber er hatte einen gravierendes Manko: die Sprache. Und das hat der Gegner gnadenlos ausgenutzt und ausgeschlachtet. Er machte es wie immer: das ganze Feuer auf die wichtigste Person richten, denn damit hofft man die ganze Bewegung empfindlich zu treffen. Denken wir an Liebknecht/Luxemburg, Lenin, Thälmann … Der Gegner war in dieser Hinsicht vielleicht klüger als die meisten von uns: Er begriff sehr früh, dass Ulbricht der überragende politische Kopf in der DDR war. Und deshalb musste er weg. Selbst in der Partei blieb die permanente Hetze nicht ohne Wirkung. Viele Genossen, die Ulbricht gar nicht kannten, plapperten diesen Unsinn vom machthungrigen, unbelehrbaren Dogmatiker, dem autoritären Herrscher und Diktator von Moskaus Gnaden nach.
    Ulbricht pflegte ein sehr gutes Verhältnis zu Wissenschaftlern, die zur Elite der deutschen Naturwissenschaftler gehörten, etwa den Physiker Max Volmer 1 , dem Pionier der Quantenmechanik, Nobelpreisträger Gustav Hertz 2 , Peter Adolf Thiessen 3 und andere. Worauf gründeten diese Beziehungen?
    Er hatte ja nicht nur zu den genannten und anderen Personen ein positives Verhältnis, sondern zur Wissenschaft insgesamt. Meine erste Aufgabe in Berlin bestand darin, im Herbst 1962 eine Sitzung des Forschungsrates zu den Aufgaben von Wissenschaft und Technik vorzubereiten, auf der Ulbricht sprechen wollte. Alle Forschungsratsmitglieder – etwas über 100 Personen – wurden eingeladen, wir kamen im Ministerrat in einem großen Saal zusammen, ich leitete die Tagung. Die Rede hinterließ einen großen Eindruck bei allen, die Wissenschaftler waren sichtlich angetan von Ulbricht, manche geradezu begeistert. Es war, wie ich im Nachgang fand, von Ulbricht eine sehr kluge Entscheidung, vor diesem Gremium aufzutreten. Er löste sich oft von der Rede, machte Bemerkungen wie diese, dass er es wie die Königin Juliane der Niederlande halte: Wenn die wissen wollte, was das Volk denkt und bewegt, fragt sie nicht ihre Berater, sondern die Betreffenden selbst. Darum konsultiere er, wenn er wissen wolle, wie es um Wissenschaft und Technik und deren Fortschritt im Lande und in der Welt bestellt sei, eben »Sie, meine Damen und Herren«, und nicht seine Berater. Das war keine Rangeschmeiße, sondern entsprach seinem inneren Bedürfnis. Und das spürten die Leute. Er sagte auch ohne Scheu, wenn er etwas nicht verstand, und fragte nach. Er war da ganz entspannt und offen.
    Ulbricht bestellte mich oft zu sich unter Umgehung des Dienstwegs, wofür mich Günter Mittag kritisierte, weil ich ihn darüber nicht informiert hatte. Wieso ich ihn fragen müsse, ob ich zu Ulbricht gehen dürfe oder nicht, hielt ich dagegen. Darum gehe es doch gar nicht, sagte er beleidigt, er müsse eben darüber informiert sein.
    Was war der Grundtenor von Ulbrichts Rede?
    Dass Wissenschaft und

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