Walzer der Liebe
überlegte fieberhaft, wie ich mich diesen Anwürfen stellen solle, wie ich sie vergessen machen könne, oder wie ich, falls ich dazu nicht die Möglichkeit hatte, mit ihnen bis an das Ende meiner Tage leben würde.
Endlich beruhigte ich mich. Nichts, was der Verfasser behauptet hatte, entsprach der Wahrheit. Diese schmutzigen Beschuldigungen waren reine Erfindungen. Es musste einen Weg geben, ihnen entgegenzutreten.
Ich nahm die beiden anderen Briefe aus meiner Schmuckschatulle und legte die drei Bögen nebeneinander auf den Tisch. Es war offenkundig, dass die Zeilen von derselben Person geschrieben worden waren, und, wie ich vermutete, mit verstellter Handschrift. Ich hatte dieses kritzelige, fast unleserliche Gekrakel nie für echt gehalten. Ich suchte jeden Brief nach einem besonderen Merkmal ab. Waren der Abstrich im Y und G länger als gewöhnlich?
Schräger? Der Großbuchstabe W mit der geschwungenen Serife - war er schon früher verwendet worden? Allmählich begann ich, ein gewisses Muster in der Handschrift zu entdecken, ein Muster, das sich in allen Briefen wiederholte. Ich fragte mich, ob die Person, von der sie verfasst worden waren, diese Merkmale auch in ihrer normalen Korrespondenz erkennen ließ, und überlegte, ob ich imstande sein würde, sie zu bemerken, falls ich Gelegenheit dazu hatte.
Schließlich richtete ich die Aufmerksamkeit auf die verwendeten Wörter. Ich gelangte sogleich zu der Erkenntnis, dass derjenige, der die Briefe geschrieben hatte, gebildet war. Die Rechtschreibung war zwar nicht einwandfrei, die Wortwahl jedoch bezeichnend. Eine ungebildete Person hätte nicht Lasterhaftigkeit, sondern Sündhaftigkeit geschrieben. Und „verderbt" war auch kein allgemein geläufiges, häufig benutztes Wort. Aber hatte ich nicht stets gewusst, dass der Verfasser aus besseren Kreisen kommen musste? Es traf zu, dass Hibbert und Miss Pratt nicht gerade meine Lieblinge waren. Ich konnte mir indes nicht vorstellen, dass einer der beiden eine so lange, bösartige Kampagne gegen mich führen würde.
Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wann die Briefe angekommen waren. Das erste Schreiben war vor zwei Wochen am Vormittag eingetroffen, das zweite drei Tage später.
Danach hatte Ruhe geherrscht - bis heute. Ich wusste nicht, auf welchem Weg die heutige Mitteilung mich erreicht hatte. Die Erste war durch die Post ausgeliefert worden, die zweite per Boten.
Das alles war sehr interessant, half mir jedoch nicht viel weiter oder tat mir eine Möglichkeit auf, den Schuldigen identifizieren zu können. Derweil ich die Briefe in das Fach legte, ging ich in Gedanken meine Londoner Bekannten durch, denn der Absender musste einer von ihnen sein. Leider war der erste Name, der mir in den Sinn kam, der meiner Cousine. Ich sagte mir, sie könne die Verfasserin nicht sein, denn sie hatte, auch wenn sie in ihren Äußerungen häufig grausam und gefühllos war, versichert, mich zu mögen. Ich hätte schwören können, dass sie das ehrlich gemeint hatte. Sie schien meine Gesellschaft zu schätzen, da sie nicht viele Freundinnen hatte. Nur Gloria Hefferton, wie ich mich entsann.
Wie bequem und leicht die Lösung war, falls es sich um Miss Hefferton handelte. Ich mochte sie ebenso wenig wie sie mich. Und sie Schien die Art Mensch zu sein, die großen Gefallen daran fand, giftige Briefe zu schreiben. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie eine seltsame Person war. Außerdem würde sie von Louisa alles über mich wissen. Ich fragte mich, ob es einen Weg gebe, in den Besitz einer Schriftprobe von ihr zu gelangen.
In diesem Moment kam mir ein anderer Gedanke. Ich würde kein Beispiel ihrer Handschrift benötigen, wenn ich herausfinden konnte, ob sie in ihrem Schreibtisch geschmackloses Briefpapier, grellblauen Siegellack und ein mit einem Gänseblümchen verziertes Siegel verwahrte.
Ich war nie bei ihr zu Haus gewesen, wenngleich ich einigen von Louisas Äußerungen entnommen hatte, dass Miss Hefferton nur ein kurzes Stück vom eleganten Mayfair entfernt in Soho in der Berwick Street wohnte. Ich vermutete, dass es mehrere Hefferton-Sprösslinge gab. Wiewohl vornehm, war die Familie doch verarmt.
Die ganze Zeit hindurch, in der ich Gloria Hefferton in Betracht zog und überlegte, wie ich mir eine Einladung zu ihr nach Haus verschaffen könne, vermochte ich indes Louisa nicht aus meinem Unterbewusstsein zu verdrängen, meine Cousine mit ihren Temperamentsausbrüchen und Launen, die so eigensüchtig und herzlos sein
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