Walzer der Liebe
stellte ich fest, dass sie keine Ahnung von seinem Aufenthaltsort hatte.
Da es der Tag war, an dem sie üblicherweise Besuche machte, erbot ich mich, sie zu begleiten.
Auf der Fahrt sprachen wir wenig, bis wir die Außenbezirke Londons erreicht hatten.
„So", äußerte meine Tante plötzlich. ,Jetzt können wir ein nettes Plauderstündchen abhalten. Ich hatte seit längerem vor, mit dir unter vier Augen zu reden, und dir, wenn möglich, zu erklären ..." Sie hielt einen Moment inne, als müsse sie ihre Gedanken ordnen.
„Vielleicht ist es besser, wenn du anfängst", sagte sie schließlich. „Ich bin sicher, du hast dich bereits über uns gewundert."
„Ja, das habe ich", erwiderte ich, entzückt über die Chance, mich über diese seltsame Familie, bei der ich zur Zeit wohnte, erkundigen zu können. Ich war entschlossen, das meiste aus dieser Gelegenheit zu machen. Es gab so viele Dinge, die mich verwirrten. „Erzähl mir etwas über deinen Gatten, Tante", begann ich. Sie blickte befremdet drein. Offenbar tat es ihr Leid, dass sie mir die Erlaubnis gegeben hatte, ihr Fragen zu stellen. Hastig fügte ich hinzu: „Ich bin sicher, deine Geschichte muss romantisch sein."
„Nun, ja, das ist sie wohl", erwiderte meine Tante und entspannte sich ein wenig. „Ich habe meinen Mann hier in London kennen gelernt, als ich zu Besuch bei Freunden weilte. Damals war ich siebenundzwanzig Jahre alt und aus dem einen oder anderen Grund noch nicht verheiratet. Nun, du kennst Yorkshire. Es ist so einsam! Und ich glaube, ich habe die Zeit nach meinem zwanzigsten Geburtstag damit verbracht, einen verstorbenen Verwandten nach dem anderen zu betrauern. Diese Trauerzeit ist schrecklich ungerecht", fügte sie düster an und versank dann in Schweigen.
Ich erwärmte mich für sie, wie ich das bisher noch nicht getan hatte. Ich war ganz ihrer Ansicht, dass die lange Trauerzeit, besonders für junge Leute, eine echte Strafe war.
Als ich sie drängte, mit ihrer Geschichte fortzufahren, erwachte sie aus ihren Tagträumen und sagte: „Oh, entschuldige! Ich war in Gedanken. Also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Ich besuchte London, wo ich Frederick Langley traf. Ich fand ihn wundervoll, und als er mich bewunderte, mir sagte, er liebe mich, war ich hingerissen. Seine Gattin lebte noch. Sie hieß Clara. Daher konnten wir nicht heiraten. Doch nach meiner Rückkehr nach Hause schrieb er mir. Als seine Frau starb, arrangierte er es, dass wir auf den Tag genau ein Jahr später heiraten konnten. Das war die längste Trauerzeit, die ich je hinter mich gebracht habe", setzte meine Tante mit scheuem Lächeln hinzu.
Abgesehen von der Untreue des Viscount seiner Gattin gegenüber irritierte mich noch etwas an dieser Geschichte. „Aber wie ist die erste Frau deines Mannes gestorben? Sie kann doch noch nicht sehr alt gewesen sein?"
„Nein, sie war erst Mitte dreißig. Ihr Tod kam sehr ... unerwartet."
Es war offenkundig, dass meine Tante nicht mehr darüber verraten wollte. Sie wich meinem Blick aus, als sie in ihrem Ridikül nach einem Taschentuch kramte.
„Unerwartet? Wieso?" erkundigte ich mich. Ich war entschlossen, herauszufinden, ob der anonyme Briefeschreiber die Wahrheit über Louisas Mutter kannte. „Ich glaube, gehört zu haben, dass die erste Frau deines Mannes einen Reitunfall hatte."
Es dauerte einige Sekunden, bis meine Tante nickte. „Ja", bestätigte sie leise. „Sie war zu Pferd."
„Aber was ist passiert?" hakte ich nach.
„Ich ... ich bin nicht sicher. Ich glaube, aus irgendeinem Grund ist ihr Pferd durchgegangen, sodass sie zu Schaden kam. Ich weiß, es musste erschossen werden. Es war schwer verletzt."
An der Art, wie meine Tante die Lippen zusammenkniff, merkte ich, dass sie nichts weiter zu diesem Vorfall sagen wollte. Daher befragte ich sie über den gegenwärtigen Viscount und Louisa. Ich hatte mich indes geirrt, als ich dachte, der Themenwechsel würde ihr das Gespräch erleichtern. Sie krallte die Hand immer noch um das Taschentuch und schaute mich furchtsam an. In ihrem hageren, faltigen Gesicht wirkten ihre Augen übergroß. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wie alt sie sein mochte. Wenn sie den Viscount Ende zwanzig geheiratet hatte, konnte sie nicht älter als achtunddreißig sein. Wie eigenartig! Auf Grund ihres Benehmens und ihres Äußeren wirkte sie wesentlich älter.
„Die Kinder?" fragte sie. „Sie sind anders. Ganz besonders Louisa ist das. Sie ist wie ihre Mutter. Sie ist impulsiv,
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