Walzer der Liebe
Straßenbengel abgegeben worden war.
„War das derselbe Junge?" platzte ich heraus und bereute sofort meine Neugier, weil Hibbert überrascht zu sein schien.
„Nein, Miss, das war ein anderer", antwortete er, während ich widerstrebend den Brief vom Silbertablett nahm.
Meine Tante war bereits nach oben gegangen, und ich folgte ihr. Ich hatte keine Ahnung, wo Louisa sich befand, war jedoch froh, die Zeit zu haben, das Schreiben in der Abgeschiedenheit meines Zimmers lesen zu können. Es war länger als das Letzte, und derweil ich es las, meinte ich fast, Mr. Carlyles Hand sich über das billige Papier bewegen zu sehen, seine verkniffenen Lippen und seinen kalten Blick, während er die Tinte mit Streusand trocknete und das Blatt dann faltete, sein verächtliches Gesicht beim Erhitzen des blauen Siegellacks und Benutzen des einfachen Petschafts. Diese Vorstellung erzeugte mir Übelkeit, doch als ich die Zeilen gelesen hatte, schüttelte ich den Kopf. Mr. Carlyle hatte sie nicht verfasst. Er hatte diese Worte nicht niedergeschrieben und die damit zum Ausdruck gebrachten Beschuldigungen. So etwas hätte er nicht tun können. Der Text war zu bösartig und enthielt nur Lügen.
Mein Vater konnte unmöglich das Monstrum gewesen sein, als das der anonyme Absender ihn hinstellte, als einen Menschen, der mit Gewalt daran hatte gehindert werden müssen, mich nach meiner Geburt zu ersticken, weil ich nicht der von ihm ersehnte Sohn war, als einen Mann, der meiner von der Entbindung geschwächten Mutter Drohungen und Beschimpfungen an den Kopf warf, bis er sie dadurch umgebracht hatte, ganz so, als hätte er sie tatsächlich erdolcht.
Mir war speiübel, als ich den Brief ein zweites Mal las. Ehe ich jedoch Zuflucht zu Tränen nahm, entsann ich mich der anderen Schreiben. Damals hatte der Verfasser behauptet, meine Mutter habe viele Liebhaber gehabt, und ich sei nicht das Kind meines Vaters. Ich hatte den Eindruck, der Briefeschreiber wolle beide Möglichkeiten unterstellen, doch das funktionierte nicht. Entweder war ich die Tochter meines Vaters und er wütend darüber gewesen, dass ich kein Junge bin. Oder ich war ein Bastard, und in diesem Fall, so meinte ich, hätte er entzückt und erleichtert darüber sein können, dass er mich nicht als seinen Erben akzeptieren musste, um sein Gesicht zu wahren.
War es möglich, dass dem Briefeschreiber entfallen war, was er oder sie zuvor unterstellt hatte? Das erschien mir höchst unwahrscheinlich.
Erneut verglich ich den Brief mit den bereits erhaltenen Schreiben. Abgesehen von der erwähnten Ungereimtheit glich er ihnen in jeder Hinsicht. Ich legte die Briefe in das Geheimfach meiner Schmuckschatulle und wunderte mich darüber, dass der Verfasser nicht daran gedacht hatte, eher mich als Louisa zu erpressen, wenn tatsächlich zutraf, was sie mir über die Annahme der Gesellschaft, ich sei vermögend, berichtet hatte. Im Gegensatz zu ihr hatte ich keinen Bruder, der mich hätte in Schutz nehmen können. Ich hatte nur eine schwache, völlig hilflose Tante. Ich stand so gut wie allein da. Wäre es nicht einfacher gewesen, mich zahlen zu lassen? Doch der Briefeschreiber hatte das nicht getan, und ich wunderte mich darüber. Was hoffte er oder sie mit diesen Anwürfen zu erreichen, wenn es ihm oder ihr nicht um Geld ging?
Ich überlegte, was geschehen würde, wenn ich früher als geplant nach Yorkshire aufbrechen würde. Ob die Briefe dann dort bei mir eintreffen würden? Trotz meines noblen, erst wenige Augenblicke zuvor gefassten Entschlusses, Mr. Carlyle von aller Schuld freizusprechen, sah ich ihn in Gedanken vor mir, wie er mit dem dünnen Grinsen, das er Lächeln nannte, die durch seine Wette gewonnene Summe einstrich. Und in diesem Moment entschied ich, ihm diese Genugtuung nicht zu gönnen, ganz gleich, was er an mich schreiben mochte.
Ich würde einen Weg finden, wie ich ihn bloßstellen konnte, und wenn ich damit das Letzte tat, was mir noch möglich war. Falls er wirklich der Schuldige ist, flüsterte eine innere Stimme mir zu. Plötzlich fragte ich mich, ob ich den Verstand verlöre.
Eines stand jedoch unstrittig fest: Ich war die bei weitem verwirrteste Person in ganz London.
9. KAPITEL
Lady Beech hatte mich zu sich eingeladen. Da Louisa an diesem Vormittag einen Besuch bei ihrer Freundin Gloria Hefferton machen wollte, fuhr ich allein zu Lady Beech.
Wir schlenderten gemächlich durch die Gärten von Beech House, als sie äußerte: „Ich bin sicher, Sie haben von
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