Wandel
richten“, flüsterte ich. Dabei war ich versucht, mich einen Augenblick lang, nur bis es getan war, selbst zu belügen. Mir einzureden, ich wäre sein rechtmäßiger, vom Gesetz bestimmter Henker.
Aber das war ich nicht.
Ich hätte mir auch einreden können, dass ich ja lediglich sein Leiden beendete, wenn ich ihn tötete, dass ich ihn in einem Akt des Mitleids von grausamer Pein erlöste. Notwendigerweise durch Blutvergießen, aber letztlich doch rasch und sauber. Niemand hatte je so viel erlitten wie Slate. Auch diese Geschichte hätte ich mir schmackhaft machen können.
Aber ich tat es nicht.
Ich suchte nach Macht, nach neuer Kraft. Aus gutem Grund, ja, aber ich würde weder mich noch jemanden sonst belügen, was meine Handlungen betraf. Wenn ich Slate das Leben nahm, tat ich etwas, was mir nicht zustand. Ich beging einen vorsätzlichen, kalkulierten Mord.
Es war der am wenigsten üble Weg, sagte ich mir. Alle anderen Möglichkeiten würden mich in ein Monster verwandeln. Mab kontrollierte ihren Ritter nicht vollständig – das wusste ich, weil es Lloyd Slate gab, der sich gegen ihre Macht und ihren Einfluss aufgelehnt hatte.
„Aber was hat ihm das gebracht?“, flüsterte ein Stimmchen in meinem Kopf. „Sieh ihn dir doch an.“
Hinter den Wolken tauchte der volle, runde Mond auf und badete das Tal des Steintischs in klares, kaltes Licht. Auf dem Tisch und den Menhiren glitzerten die Runen.
„Magier“, flüsterte die Stimme, die Mab sich angeeignet hatte, direkt in mein Ohr. „Die Zeit ist gekommen.“
Mir war übel, mein Herz raste wie verrückt.
„Harry Blackstone Copperfield Dresden“, sagte Mabs Stimme fast liebevoll. „Triff deine Wahl.“
31. Kapitel
I ch starrte auf den halb toten, gebrochenen Mann und meinte, auf dem Steintisch mein eigenes Gesicht zu sehen. Ich trat einen Schritt vor, dann noch zwei. Dann stand ich über ihm, über dem, was von Lloyd Slate noch übrig war.
In einem Kampf hätte ich ihn getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber der Mann stellte für mich keine Bedrohung dar. Er stellte für niemanden mehr eine Bedrohung dar. Ich hatte kein Recht, ihm das Leben zu nehmen – anderes zu behaupten wäre reine, nihilistische Arroganz gewesen. Wenn ich Slate tötete – wie lange würde es dauern, bis ich selbst an der Reihe war? Was da vor mir lag, hätte ich selbst sein können. In ein paar Monaten, in ein paar Jahren.
Nein – ich konnte es nicht tun. Ebenso wenig, wie ich mir die eigene Kehle hätte durchschneiden können.
Meine Hand senkte sich. Das Messer darin schien zu schwer.
Plötzlich stand Mab mir auf der anderen Seite des Tisches gegenüber. Eine einfache Geste – und der feine Nebelschleier über der Steinplatte verdichtete sich, Farben leuchteten darin auf, Licht schimmerte. Erst verschwommen, dann mit immer klareren Konturen entstand ein Bild.
Ein kahles Zimmer, Wände aus Stein. In einer Ecke hockte ein Mädchen. Ein bisschen Stroh lag auf dem Boden, darauf eine nicht besonders saubere Wolldecke. Das dunkle Haar der Kleinen war ursprünglich zu Rattenschwänzen hochgebunden gewesen, aber davon existierte nur noch eines, und auch das halb aufgelöst. Eine der rosa Plastikklämmerchen, die sie zusammengehalten hatten, war wohl verlorengegangen oder gestohlen worden. Ihr Gesicht war rot vom Weinen. An den Knien ihrer kleinen rosa Latzhose hatte sie sich offenbar die Nase abgewischt. An ihrer Bluse, weiß mit gelben Blumen und großen Hummeln darauf, klebten Schmutz und Schlimmeres. Sie hatte sich zu einem Ball zusammengerollt, so fest, als hoffe sie, übersehen zu werden, wenn man sie suchen kam.
In ihren großen, braunen Augen stand nackte Angst – und ich sah etwas Vertrautes darin. Ich brauchte ein Weilchen, bis ich es erkannte. Dieselben Augen sah ich im Spiegel. Auch andere Gesichtszüge zeigten sich mir, verschwommen noch, aber wenn die Kleine älter war, würde man sie gut erkennen können. Die Kinnlinie, die Thomas und ich gemeinsam hatten. Der Mund ihrer Mutter. Susans glattes, glänzendes Haar. Hände und Füße wirkten ein wenig zu groß für den feingliedrigen Körper, wie bei einem Welpen, der erst noch in seine Pfoten hineinwachsen musste.
Irgendwo in der Ferne erklang der Schrei eines Vampirs des Roten Hofes in seiner wahren Gestalt. Die Kleine zuckte zusammen. Sie fing an zu weinen, rollte sich vor Entsetzen womöglich noch kleiner zusammen.
Maggie.
Ich wusste noch genau, wie es gewesen war, als Bianca und ihre Dienerschaft
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